Journalismus von Welt: Die neoliberale Definitionsmacht
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04. Jan 2009 0:34
In einem Interview mit Oskar Lafontaine zelebriert Ulf Poschardt für die “Welt” seine heillose Verstrickung in einen Sprachgebrauch, der nichts anderes mehr zulassen will als Definitionen, die der verinnerlichten Ideologie zuträglich sind. Während Lafontaine es sich nicht nehmen läßt, die Dinge so zu erläutern, wie er sie denkt, hält der Interviewer ihm die Arroganz medialer Definitionsmacht entgegen. Der Journalist will nicht diskutieren, er will Bedeutungen festgelegt wissen:
“WELT ONLINE: Meinen Sie Chancen- oder Ergebnisgerechtigkeit?
Lafontaine: Das sind Täuschungswörter des Neoliberalismus. Schon von Chancengerechtigkeit zu reden ist angesichts der gravierend ungleichen Verteilung der Startchancen ein schlechter Witz.”
Es soll nur als “Gerechtigkeit” gelten dürfen, was in den genannten Dualismus paßt. Selbstverständlich ist “Ergebnisgerechtigkeit” dann falsch, weil sozialistische Gleichmacherei. Es soll ergo nur “Chancengerechtigkeit” geben, die unter Hand als gegeben behauptet wird. Mit Recht hält Lafontaine dem die soziale Realität entgegen.
“Lafontaine: All diejenigen, die die Menschen mit den Lügenwörtern des Neoliberalismus hinters Licht führen.
WELT ONLINE: Was ist aus Ihnen geworden, dass Sie das Wort „liberal“ als Schimpfwort einsetzen? Sie galten früher in der SPD als ein moderner Linksliberaler.”
Die Gleichsetzung von “Neoliberalismus” mit “liberal” und der anschließende wirre Vorwurf zeugt von einem Geist, dem die Sprache abhanden gekommen ist. Es geht nur noch um das Hüben vs. Drüben der vermeintlichen ideologischen Gräben.
“WELT ONLINE: Dann verstehen Sie sich als Liberaler?
Lafontaine: Moment. Ich will noch etwas sagen. Und drittens: Einer der Vordenker des Neoliberalismus, Alexander Rüstow, sagte, der Staat muss dorthin, wo er hingehört, über die Wirtschaft. Davon kann in einer Zeit, in der ein ehemaliger Bundesbank-Präsident zutreffend gesagt hat, die Finanzmärkte kontrollieren und beherrschen die Politik, nicht mehr die Rede sein.
WELT ONLINE: In diesem – zugegebenermaßen kruden Verständnis des Liberalismus – wären Sie dann ein Neo-Liberaler?”
Was “krude” sein soll am Verständnis, erschließt sich mir nicht. Die Anschlußfrage taugt nicht einmal mehr zum schlechten Witz. Sie ist schlicht peinlich.
“WELT ONLINE: Dennoch benutzen Sie das Wort „liberal“ in diesem Gespräch meist so, wie es im Augenblick viele benutzen: als Schimpfwort. Gemäß dem Diktum von Wittgenstein: Bedeutung entsteht im Gebrauch. Sie galten früher als Feingeist in der Politik, jetzt geben Sie den Polemiker. Macht Ihnen das Spaß?”
Schimpfwort gemäß Bedeutung als Gebrauch, das ist also Wittgenstein? Und macht das Spaß? Wittgenstein kann leider nicht antworten, vermutlich würde er den Wörterkasper verklagen.
“WELT ONLINE: Dafür erhalten die Arbeitnehmer einen Lohn.
Lafontaine: Das genügt nicht. Der Unternehmer kriegt neben dem Zuwachs des Betriebsvermögens seinen Gewinn und seinen Unternehmerlohn. Uns geht es nicht um die Enteignung der Unternehmer, sondern darum, dass die ständige Enteignung der Arbeitnehmer beendet wird.
WELT ONLINE: Sie betreiben Politik als Sprachspiel.”
“Sprachspiel”, das ist dem verunsicherten Tendenzjournalisten jeder Widerstand gegen die selbstproduzierte Entmündigung. Wenn marktliberale jede Steuer als “Enteignung” bezeichnen und jemand daherkommt, der das Spiel von Zueignung und Enteignung aus seiner Perspektive beschreibt, sei das “Sprachspiel”. Ein toller Begriff vom großen Wittgenstein, der übrigens nicht das Mindeste mit dem zu tun hat, was der Interviewer hier auftischt. Ginge es nach diesem, dürften Politiker bald gar nicht mehr sprechen, sondern nur noch vorbeten.
“WELT ONLINE: Hat die Linke noch nicht verstanden, dass ihre Form der Sozialtransfers das Prekariat in der Unmündigkeit, ohne Selbstverantwortung, hat verkümmern lassen?
Lafontaine: Wir haben einen anderen Begriff von Verantwortung als die Neoliberalen.”
Nun muß man zuerst einmal feststellen, daß nicht “die Linken” für “Sozialtransfers” verantwortlich sind, sondern die bisherigen Regierungen der Bundesrepublik. Die Behauptung, dies sei “Unmündigkeit, ohne Selbstverantwortung”, ist Neoliberalismus in seiner plattesten Prägung. Zum Thema “Verantwortung” werde ich mich in einem der folgenden Artikel noch auseinandersetzen. Selbstverständlich erklärt der Ideologe hier auch nicht, wie denn mehr “Verantwortung” und “Mündigkeit” aussähen und wer in der Wirklichkeit für was die Verantwortung trägt.
“(Lafontaine):Im Zentrum des Christentums steht übrigens nicht Eigenverantwortung, sondern Nächstenliebe.
WELT ONLINE: Ja, aber die wird ja auch in Deutschland praktiziert.
Lafontaine: Na ja, Ihr Wort in Gottes Ohr.
WELT ONLINE: Sie wird in Deutschland sehr umfassend praktiziert. Also es gibt keine linke Form von Selbstkritik, was den Erfolg der Sozialleistungen betrifft?”
Die Widerrede zeichnet sich einmal mehr dadurch aus, daß sie weder irgendwelche Fakten nennt, noch sich um eine Begründung bemüht. Ein seriöser Interviewer hält sich entweder mit seiner Meinung ganz zurück oder er steigt in die Diskussion ein. Poschardt hingegen weiß sich des Applauses der Rechten sicher, wenn er den Interviewten unprofessionell zurechtweist.
“WELT ONLINE: Da sind sich ja alle einig. Ist ein Thema wie Sozialmissbrauch für Sie tabu?
Lafontaine: Ich habe kein Problem mit dem Thema sozialer Missbrauch. Es gibt auch Missbrauch sozialer Leistungen. Nur, wenn man über Missbräuche in der Gesellschaft spricht, dann darf man ?
WELT ONLINE: Jetzt kommen Sie wieder mit der anderen Seite.
Lafontaine: … nicht einäugig sein.”
Deutlicher kann sich der Ideologe nicht entlarven. Er will, daß nur eine vorgefasste Meinung zur Sprache kommt. Die Assoziierung von “Sozialleistungen” und “Missbrauch”, die die Öffentliche Meinung beherrscht, soll gefälligst auch von der Linken übernommen werden. Dazu soll Lafontaine auf seine demagogischen Bezüge auf die Wirklichkeit verzichten. Großartig.
“WELT ONLINE: Sie glauben weiter an den Segen der Umverteilung?
Lafontaine: Umverteilung ist ein klassisches Täuschungswort, das von denen missbraucht wird, die durch die Umverteilung der Erträge der Arbeit zu großen Einkommen und Vermögen kommen. In den letzten Jahren ist die Lohnquote um acht Punkte gesunken. Anders ausgedrückt: Hätten wir noch die Lohnquote des Jahres 2000, dann hätten die Arbeitnehmer 140 Milliarden mehr pro Jahr in der Tasche. Über diese gewaltige Umverteilung reden wir.”
Auch hier eine inhaltlich fundierte Meinung, die das Phänomen “Verteilung” aus einer übergeordneten Perspektive betrachtet. Das will aber die “Welt” nicht hören:
“WELT ONLINE: Interessant: Wir finden keine gemeinsame Sprache.
Lafontaine: Sie müssen die Begriffe klären, sonst reden wir munter aneinander vorbei.
WELT ONLINE: Ihre Definitionen sind gut verständlich. Nur sind Ihre Definitionen nicht sonderlich marktgängig.”
Man muß für diese Offenheit geradezu dankbar sein, und hier gelingt dem Narren ein fürwahr fürstliches “Sprachspiel”. Er will Begriffe nicht klären, er will sie marktgängig angewandt wissen. Der Markt definiert die Begriffe – der Markt der Großverlage und der großen Marktteilnehmer, der Verdiener und Leistungsträger. Gleichzeitig soll der Begriff dem Markt dienen, seinem guten Ruf und denjenigen, die sich ihm verschrieben haben.
“WELT ONLINE: Dann ist die Linkspartei im orwellschen Sinne eine Partei, die eine eigene Semantik aufbaut und einen Newspeak hat. Dann müssen Sie eigentlich vor allem dafür sorgen, dass die Wähler Ihre Definition teilen.”
Nicht einmal Orwells “1984″ hat Poschardt begriffen, vielleicht sollte er noch einmal bei Pippi Langstrumpf anfangen. Der “Newspeak” ist die Vergewaltigung der Sprache durch eine diktatorische Herrschaft, bei dem Bedeutungen willkürlich besetzt werden und ihre strikte Anwendung Bürgerpflicht ist.
Wem in diesem Interview diese Rolle tendenziell zukommt, ist nur zu offensichtlich.
Januar 4th, 2009 at 01:22
Ich hatte diese Interview auch schon fuer eine Analyse anvisiert, habs dann aber bleiben lassen. Der Interviewer war mir einfach zu daemlich. Immerhin: Poschardt will “entlarven” und er schafft das auch; er entlarvt sich selbst. Lafontaines Antworten muss man da eigentlich gar nicht mehr mitzitieren, er haette eigentlich auch gar keine geben muessen. “Poschardt pur” waere vermutlich noch deutlicher und hm.. “konturierter”. Und das hat mir dann wieder gefallen: ein Interview, in dem der Ausfrager sich selbst und seine Ideologie entbloesst bis auf die Knochen.
;-)
Januar 4th, 2009 at 02:52
[...] Wer glaubt, alle WELT-Peinlichkeiten gefunden zu haben kann ja mal mit Feynsinn vergleichen, der sich inzwischen die Mühe gemacht hat, das Geschwurbel aufzudröseln und zu [...]
Januar 4th, 2009 at 04:35
Danke für diesen Beitrag.
Und ein gutes neues Jahr, Flatter.
Gruß
Frank
Januar 4th, 2009 at 08:35
Hatte dieses Interview auch schon gelesen und mich wiederholt gefragt, mit welcher Berufsehre der Journalismus noch ausgestattet ist.
Es gab ja auch auf der Welt-Seite viele Kommentare dazu, wovon ich mir ein paar Seiten durchgelesen habe und es ist immer wieder erstaunlich, wie viele Menschen einfach nur gegen links sein wollen, ohne das vorher gelesene mal aufgenommen, geschweige denn richtig verstanden zu haben.
Da zeigt das Gebaren der INSM seine Wirkung.
Hierzu ein sehenswertes Video, was heute auch Prof. Jahnke auf seiner Seite verlinkt hat; sollte als Aufklärungsfilm in Schulen laufen+Unis laufen*gg*
https://uk.youtube.com/watch?v=57aaqtyEzOQ
Januar 4th, 2009 at 11:01
Tja, das ist das Problem der Journalie, die gegen Lafontaine “anstinken” will. Diese Journalisten sind ihm einfach nicht gewachsen.
Er zerpflückt sie nach Strich und Faden. Deshalb kommen sie auch nur noch mit vorgefertigten Statements, in einer Nachfrage-Aktion bzw. Diskussion würden sie von “Oskar” an die Wand genagelt werden.
Januar 4th, 2009 at 11:39
du greifst den neoliberalen begriff der sozialistische gleichmacherei auf. an diesem begriff läßt sich gar trefflich verdeutlichen, wie sprachgebrauch und realität auseinander klaffen, denn gleichmacherei ist das produkt der großen koalition, sprich ihrer “reformen”.
das zwangsinstrument heißt pauschalisierung.
zwei beispiele nur: die große gleichmacherei bei hartz IV und die pauschale pro patient in den arztpraxen.
Januar 4th, 2009 at 12:41
Ich lese weder die Bildzeitung noch die Welt. Aber danke für die Analyse.
Januar 4th, 2009 at 13:18
Poschardts Trick, sich selbst Orwell nutzbar zu machen, fand ich am Interessantesten. Dumpf ahnt Poschardt ja, dass die Vorwürfe, die er Lafontaine macht, weit eher auf ihn selber zutreffen. Er weiß ja, wie massiv in den letzten Jahren neoliberale begrifflichkeit gepushed wurde… Das alte Lied: Der Prügler will den geprügelten die Prügel entgelten lassen.
Januar 4th, 2009 at 13:39
https://kritik-und-kunst.blog.de/2009/01/04/poschardt-lafontaine-5320296
mfg
Januar 4th, 2009 at 13:44
Vor kurzem wurde hier vom Betreiber und einer ganzen Reihe von Kommentatoren über die Wirksamkeit von Blogs als Instrument einer Gegenöffentlichkeit reflektiert. Vielleicht sollte man in diesem Zusammenhang an DIE LINKE herantreten und sie auffordern, eine zuvor intensiv beworbene Präsenz im Internet zu eröffnen.
Marktwirtschaftsmarkt wäre ein passender Untertitel angesichts dessen, was nun als Politikangebot im Augenschein der Ergebnisse neoliberaler Angebotspolitik zu erwarten ist. Und als Aufmacher könnte der Rücktritt Lafontaines als Finanzminister dienen, der auf jeden Fall mehr mit der Wahrnehmung von Verantwortung zu tun hat als der Nicht-Rücktritt Steinbrücks. Oder gab es aus dessen Haus irgendeine Gesetzesinitiative, von der die Hebelkunststücke der Finanz“industrie“ auch nur behindert worden wären?
Um auf den Schreibschund einzugehen, den Feynsinn seziert und für den Wurf in die Tonne zusammengeknüllt hat, sage ich schlicht, Lafontaine sollte der WELT kein Interview geben.
Januar 4th, 2009 at 14:20
[...] von Welt-Online und nicht etwa so ein zahnloses Gedöns wie das Interview mit Oskar Lafontaine, das der Feynsinn-Blog daher völlig zu recht kritisiert. Dieser Beitrag wurde am Sonntag, 04. Januar 2009 um 14:20 Uhr veröffentlicht und wurde [...]
Januar 5th, 2009 at 10:08
[...] Journalismus von Welt: Die neoliberale Definitionsmacht In einem Interview mit Oskar Lafontaine zelebriert Ulf Poschardt für die “Welt” seine heillose Verstrickung in einen Sprachgebrauch, der nichts anderes mehr zulassen will als Definitionen, die der verinnerlichten Ideologie zuträglich sind. Quelle: Blog Feynsinn [...]
Januar 5th, 2009 at 10:08
[...] Journalismus von Welt: Die neoliberale Definitionsmacht In einem Interview mit Oskar Lafontaine zelebriert Ulf Poschardt für die “Welt” seine heillose Verstrickung in einen Sprachgebrauch, der nichts anderes mehr zulassen will als Definitionen, die der verinnerlichten Ideologie zuträglich sind. Quelle: Blog Feynsinn [...]
Januar 5th, 2009 at 14:58
Wow, geniales Interview. Wie heisst es doch so schoen: wer mit einem Finger auf andere zeigt, sollte nicht vergessen, dass mindestens drei auf einen selbst gerichtet sind. Gell, Herr Poschardt?
Lieber Feynsinn: Danke fuer die Bekanntmachung. Die Welt ist _leider_ nicht auf meinem Bildschirm. Ein Herr Lafontaine dagegen schon.
Januar 6th, 2009 at 12:20
Danke Feynsinn,
auf ein gutes neues Jahr und weitere
so brilliante Analysen.
Mit besten Gruessen
StB Wolfgang Kreuz
Januar 8th, 2009 at 20:13
Ich finde, der Interviewer ist sehr angriffslustig.
Kurz zum Wittgensteischen Sprachspiel:
Das ist einer jener metaphorischen
immer passenden abstrakten
Begriffe, hier für ALLES “sinnhafte” sprachliche Geschehen.
Da fallen auch Absichten und Intentionen darunter,
aber für den Philosophen besonders wichtig,
sind Regeln, an die sich gehalten wird,
ohne sie unbedingt bewußt zu kennen.
Es geht auch nicht immer um verstehen
beim Reden oder Schreiben.
Beim Schach geht es ums Gewinnen und im Sprachleben geht es häufig um Geld, Liebe, Macht, etwas zu essen oder Gefühlsausdruck
zum Beispiel.
Da jemanden vorzuwerfen, er “inszeniere etwas als Sprachspiel”.
zeugt von Unverständnis.
Der herumgeisternde Vorwurf von
Lafontaine als “Demagoge”, das Sprachspiel,
das der Interviewer auch spielt,
ist da gerdezu infam.
“Gib dem Hund einen schlechten Namen und dann hänge ihn auf” sagen die absoluten Presseprofis in England dazu.
Hoffentlich fällt nach 50 Jahren Massenmedien mit
“Abhärtungseffekt” niemand mehr auf so etwas herein.
Januar 9th, 2009 at 22:13
[...] einem Gespräch mit Oskar Lafontaine mit Vokabeln um, die dringend genauerer Definition bedürften. Auf dem Blog Feynsinn.org wird dieser Fall eingehend betrachtet. Gerade von Journalisten wie Ulf Poschardt muss erwartet [...]
Januar 18th, 2009 at 17:41
[...] in vieler Hinsicht interessantes Interview der WELT mit Lafontaine. Feynsinn hat in seinem Blog die Agenda des Journalisten aufgezeigt. Trozdem hat es Lafontaine geschaft grundlegende Positionen [...]