Wie soll ich mir das vorstellen? Nach einem wochenlangen politischen Generalstreik greifen wütende Bürger die Institutionen an? In Deutschland? Wieso überhaupt in Deutschland?
Zwei prägnante Sätze dazu lese ich in der TAZ. Der eine ist von Klaus Dörre, der richtig feststellt:

Aber auch die Unruhen im Mai 1968 sind von Paris nach Deutschland herübergeschwappt.

Welch ein Unsinn, in der aktuellen Situation bei “Unruhen” in nationalen Grenzen zu denken! Für die Entwicklung hierzulande muß man mindestens ganz Europa im Auge haben. Sollte es so etwas wie eine relevante Masse Unzufriedener geben, die einen Zusammenhang herstellen zwischen ihrer Lage und dem politischen Ganzen, wird sie nicht national begrenzt sein. Man darf wohl davon ausgehen, daß in Deutschland nicht der Anfang gemacht werden wird. Im Westen wabert noch immer ein bewußtloser Konsens, daß es schon irgendwie gut gehen wird, im Osten wissen sie, was es bringt, das System zu stürzen. Der Frust ist auf Depression gepolt.

Der andere Satz kommt von Hans Olaf Henkel, einem der Chefideologen des Neoliberalismus:

Es gibt kein Land vergleichbarer Größenordnung, in dem das soziale Netz so engmaschig gespannt ist.

Er fürchtet nur, daß es böse Hetzer gibt, die die Atmosphäre aufladen könnten. Daß sie längst ihr Werk vollbracht haben, sieht er nicht. Wo diese Leute zu suchen sind, ahnt er nicht. Vor dem Spiegel fällt es ihm jedenfalls ganz sicher nicht auf.
Daß das “soziale Netz” nicht zu einem als menschenwürdig empfundenen Dasein führt, entzieht sich dem Universum, in dem er lebt. Daß es vor allem nicht nur ums Brot geht, von dem allein er selbst nicht würde leben wollen, kann er gar nicht begreifen.

Die Wut, die mehr als nur ein paar Radikale oder gut Informierte packt, ist eine andere. Es ist die Wut auf den großen Wortbruch der selbsternannten “Demokraten”. Die Selbstgerechtigkeit der Eliten, die beinahe alle Instanzen vergiftet hat, ist unerträglich. Menschen, die bespitzelt und ausgebeutet werden, die für ein paar Cent von einem Gericht ihren Arbeitsplatz gestohlen bekommen, andere, die sich schamlos bereichern und dafür belohnt werden. Schon wie in Vorbereitung des Schlimmsten werden mit fadenscheinigen Begründungen Rechte beschnitten und der Generalverdacht installiert.

Der größte Feind der Demokratie, Lobbyismus, überwuchert die zivilisierte Welt und tritt mit grenzenlosem Herrenmenschen-Zynismus auf. Von staatstragenden Medien bejubelt, scheint das Unrecht die Oberhand zu gewinnen, und die Menschen wissen nicht, an wen oder was sich sie sich wenden sollen mit ihrem berechtigten Unmut. Die meisten wissen ja nicht einmal, was sich hinter den Kulissen abspielt.

Ein weiterer Fall skandalösen Unrechts firmiert noch als Kampf gegen die Bösen aus dem Internet, die als Banditen dargestellt werden, welche Porno, Diebstahl und Verwerflichkeit verkörpern. Daß sie von einem Richter zu Gefängnisstrafen und finanziellem Ruin verurteilt wurden, der selbst heimlicher Kläger war, sollte eigentlich niemand wissen. Einzig die Arroganz dieses Eliterichters sorgt nun dafür, daß das Bild wieder schief hängt. Man darf sich allerdings darauf verlassen, daß das Auffliegen dieses Halbgottes nicht zu mehr Gerechtigkeit führt. Im Gegenteil wird man feststellen dürfen, daß die Moral der “Anständigen” einmal mehr die neue Klassengesellschaft kitten wird. Das “Volk” wird sich nicht betroffen fühlen. Es trifft ja nur die “Piraten”, die aus dem Internet sogar. Man gehört ja nicht dazu.

Die “Wirtschaftkrise” ist eine Krise der Demokratie, die vollends vergessen hat, daß die Rechte und das Wohl aller ihr Fundament sein müssen. Ein “Individualismus”, der “Freiheit” sagt und Ungerechtigkeit zementiert, ist antidemokratisch. Diese schlichte Weisheit ist noch lange nicht angekommen im Bewußtsein der “Völker”. Die Eliten setzen sich darüber hinweg, weil sie keine Idee davon haben. Das Resultat ist in allen Varianten brandgefährlich.
Einige flüchten sich in Verschwörungstheorien, andere in einfache Lösungen. Bedient wird beides vom Establishment und tumben Extremisten zur Genüge. Letztere werden die sein, die zündeln, und es werden vor allem Rechtsradikale sein.

Die Etablierten werden sich mehr und mehr in eine Paranoia steigern. Wer nicht für sie ist, ist gegen sie. Obama mag ein temporärer Glücksfall sein, Bush, Berlusconi und andere gewählte Diktatoren werden unter diesen Umständen mittelfristig die Szene bestimmen. Wer hält dagegen? Die Stimme der Vernunft ist schwach und leise, wo die Arroganz der Macht und das Geschrei der Besserwisser die Bühne erobert haben.
Die Zeit ist günstig für Diktaturen. Soziale Unruhen werden daran nichts ändern.