privateDas sagten sich wohl Ende der 90er alle, die ‘groß im Internet’ waren. So entstanden vielbesuchte Chats u.a. bei Verlagen, Providern und Fernsehsendern. Das musste man haben, denn das Internet war die Zukunft. Hunderttausende meldeten sich in einzelnen Communities an, der cassiopeia-chat mit Gästebüchern und Foren war der Renner.

Nachdem das alles ein paar Jahre gelaufen war und sich echte Gemeinschaften entwickelt hatten, denen ein paar tausend bis zehntausend Chatter angehörten, kamen Zweifel am Erfolg auf. Man stellte fest, dass die Zahlen trogen. Hunderttausende Karteileichen, Probleme mit der Betreuung und nicht das große Geschäft. Außerdem galt Chatten nicht mehr als der neueste Schrei. “Community” in dieser Form war aus, weil sie nie gewollt war. “Business” war gewollt, und dazu taugte es nicht. Wenige Jahre später schlossen Anbieter wie Pro7 und GMX ihre ‘Communities’ wieder.

Chatsterben

Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Aufwand an Personal und Serverleistung nicht durch Werbung refinanziert worden ist, die Einnahmen blieben aber offenbar weit hinter den Erwartungen zurück. Außerdem erwiesen sich die Communarden als wilder Haufen, der so gar nicht den makellosen Gestalten aus der Werbung entsprach. Eher schon denen, die bei den Castingshows in der ersten Runde rausfliegen.

Dann aber kam Web zwonull. Das musste auch jeder haben. Man wusste zwar nicht, was das war, ließ sich aber von Sascha Lobo erzählen, dass am Ende des neuen Regenbogens wieder ein Eimer Gold stehe. Das neue Internet, interaktiv, authentisch, jugendlich, wartete nur darauf, von hippen Slogans und gefaketen Elogen über alle möglichen Produkte überflutet zu werden. Interaktiv, so stellten sich die Inhaber von Callcenters und Anbieter von Warteschleifen wohl vor, das ist, wenn man die Leute vollquatscht und die dann freiwillig mehr davon verlangen.

Web zwonull

Blogs waren der erste Hype. Unternehmen mussten jetzt auch welche haben, weil die Leute da so schön aktiv sind und diskutieren. Dass sie zuallererst interessiert sein müssen, was an zweiter Stelle eine gewisse Qualität verlangt, hatten ihnen die Berater verschwiegen. Ehe sie aber noch zu irgend einer Erkenntnis gelangten, wurden sie schon auf die jetzt aber ganz sicher ganz viel Gold bescherenden neuen Plattformen getrieben, vor allem Twitter und Facebook. Daran verdienen sie auch wirklich eine Mörderkohle – Twitter und Facebook. Was ein Unternehmen da verloren hat, wissen sie genauso wenig wie vorher von den Chats, Foren und Blogs. Dabei sein ist alles.

verberg

Auf der anderen Seite der Trends stehen die User, die ebenfalls wie blöde durchs Netz ziehen und sich alle paar Jahre anderen an den Hals werfen, ihre Daten für umme verschleudern und stets auf den größten Haufen … laufen. Verstehen muss man das nicht, es ist halt der Herdentrieb, und das Vieh auf Stampede hat sich noch selten Gedanken darüber gemacht, wem die Rennerei nützt – oder schadet.

Der Rest sinnentnehmenden Lesens

Unter die Hufe kommt dabei allmählich auch der letzte Rest sinnentnehmenden Lesens, denn obwohl jeder Mensch auch ein Texter ist auf diesen Spielwiesen, werden die AGB und sonstige Verpflichtungserklärungen nicht einmal mehr in der plakativen Kurzfassung gelesen. Oder hat sich eine neue Leidenschaft entwickelt, die ich an mir noch nicht entdeckt habe: Sich hemmungslos verkaspern zu lassen? So hat das derzeitige “Muss-ich-dabei-sein”-Angebot nr. 1, Facebook, auf der Eingansseite angenagelt:

Facebook ist kostenlos und wird es auch immer bleiben.

Um die Ecke heißt es dann:

Wir garantieren nicht, dass die Facebook-Plattform stets kostenlos sein wird.”

Aha. Immer, aber nicht stets. So sieht er aus, der postmoderne Lügendetektor. Wer sich so frech hinter den Serverschrank führen lässt, ist hier willkommen. Zieht euch aus, spreizt die Beine, wir wollen mit euch reden.

Zieht euch aus

Erstaunlich ist auch, für was die User sich und ihre Privatsphäre da hergeben. Dass die Software nicht so irre originell ist, zeigen schon die flugs hochgezogenen Plagiate, die an rasender Inkompetenz und einem misslungenen Marketing scheitern. Was Facebook bietet, kann eh jede Blogsoftware, und man könnte völlig unabhängig woanders dasselbe haben. Aber nein, “ich bin bei Facebook”, wissen die Avantgardisten der Kommunikationsgesellschaft.

Ihr seid nirgends. Ihr ladet eure Daten auf einen Server. Der speichert die noch ganz woanders und macht Datenabgleiche, für die selbst Polizisten verhaftet würden, vorab, flächendeckend und ungefragt. Das Ergebnis serviert er euch als “eure Freunde”, zu denen jeder gehört, dem ihr einmal eine Mail geschrieben habt. Das ist eure “Community”. Anstatt eine eigene Klitsche aufzumachen und Links auf die privaten Seiten eurer Freunde zu setzen, lasst ihr euch von einem privaten Geheimdienst vernetzen.

Mein Gott, seid ihr eine dankbare Kundschaft!