Wie immer gut gemeint und gnadenlos dabenen gemeiert doziert Jens Jessen heute den Kapitalismus in die Flucht. Die erste Hälfte seiner erkenntnisreichen Odyssee hart am Rande vorwissenschaftlicher Strände verbringt er damit, den Kapitalismus der Kritiker zu haluzinieren, um ihn sogleich als Spuk und Gespenst zu entlarven. Anstatt nun aber an seinem Vorgehen, seinem Wissen oder seiner kognitiven Potenz zu zweifeln, kommt er zu dem Schluß: Das gibt’s doch gar nicht.

Die Technik ist nicht neu, Broder macht das in allen seinen Artikeln so. Jessen ist dabei aber weder raffiniert noch bösartig, nur aus Unwissenheit und nur ein wenig borniert. Entweder hat er nichts von dem gelesen, was er da am Rande auffährt oder er hat es einfach nicht kapiert.
Ein paar Kostproben:

Jede Diktatur in der Dritten Welt, die Unterdrückung der Frau, der schlechte Sex, alles war vom Kapitalismus herbeigeführt.”

Ach ja, und ich dachte, Kuba gelte als Diktatur. Den Zusammenhang zwischen Sex und Kapitalismus habe ich so noch nicht entdecken können. Vielleicht eine Karikatur? Auf der wir dann feste rumhopsen? Wo ist der Sinn? Ich habe allerdings die Befürchtung, daß am Ende Marcuse gemeint ist. Sollten Sie mal lesen, Herr Jessen, Kant und Freud anbei, dann fällt vielleicht ein Groschen.

Alle offenen oder versteckten Mängel unserer Gesellschaft hatten mittelbar oder unmittelbar mit den Profitabsichten der Kapitaleigner zu tun; selbst scheiternde Liebesbeziehungen wurden dem warenförmigen Charakter zugeschrieben, den der Kapitalismus bis in die Psyche der Menschen trage.”

Ja, wenns ihm nicht gefällt, dann soll er’s doch kritisieren. Aber wenn jemand einen Schmarrn über mein Auto redet, folgt daraus dann, daß die Karre nicht existiert? Jessen bemüht sich weder um die Differenz zwischen dem Geschwafel betrunkener Hippies und philosophischen Schriften, noch entwickelt er ein auch nur schemenhaftes Verständnis von einem “System”.
Sehr gnädig lesend, könnte man also feststellen, er referiere eben über das allgemeine Gerede.
So einfach will er aber nicht verstanden werden, vielmehr erhebt er einen luftig hohen Anspruch:

Denn wunderbarerweise enthält die Wissenschaft gar keinen Hinweis darauf, dass es sich bei dem Kapitalismus wirklich um ein System handelt. Das System ist, wissenschaftlich gesehen, nur ein Denkmodell, das dazu dient, bestimmte Abhängigkeiten und Wechselwirkungen vor Augen zu führen. Und nicht einmal von dem Kapitalismus als Begriff kann man sagen, ob ihm ein Wesen in der Wirklichkeit entspricht.”

Kopfschmerzen!
Wer, was, wo ist in diesem Zusammenhang “die Wissenschaft”? Marx? Parsons? Luhmann? Oder doch eher Döpfner? Was Jessen da über “Das System” brabbelt, haut ihm jeder Student im Soziologie Grundstudium um die Ohren. Was er schließlich über den “Begriff” sagt, ist auf demselben Niveau. Ganz gleich ob man mit dem Dualismus Begriff/Bedeutung operiert, postmodern “dekonstruiert” oder auch mythologisch die Zeichen göttlicher Offenbarung in Ähnlichkeiten sucht – das entsprechende Wesen in “der Wirklichkeit” spielt da keine Rolle. Das Problem mag darin bestehen, daß alle diese Systeme keine Rücksicht auf Jessens Wirklichkeit nehmen. Und psst … erzählt ihm bloß nicht, daß Wirklichkeit womöglich bloß ein Konstrukt ist!

Am Ende muß auch noch Max Weber herhalten, um die Nichtexistenz des Kapitalismus zu bezeugen, obwohl jener diesen ausdrücklich religionssoziologisch rekonstruiert. Das wäre doch wenigstens etwas gewesen, die Gier der Manager mit der protestantischen Ethik zu erklären – oder das alles zu widerlegen. Aber es ist doch wesentlich schwieriger, eine Theorie zu verstehen als ihren Autor zu erwähnen.

Setzen, sechs! Ob es für Jessen den Kapitalismus gibt oder nicht und was daraus folgt, ist schlicht irrelevant. Immerhin hat er sich bemüht, die vermeintlich an ihn gestellten Anforderungen zu erfüllen. Er hat die Welt so erklärt, wie es der Herrschaft gefällt und dem Volke eingeht. Wäre die Erde eine Kugel, so lernen wir einmal mehr, fielen die Menschen hinunter.