Es mag etwas kapriziös erscheinen, aber ich habe heute einen Artikel von Dietmar Dath gelesen, der mich geärgert hat. Er hat mich deshalb geärgert, weil er den Begriff “Ideologie” willkürlich mit Assoziationen behängt, die ihm eine unsinnige Komplexität verleihen und damit mehr verschleiert als erhellt. Das mag daran liegen, dass der Autor, der hier einen merkwürdigen Anspruch an “Praxis” formuliert, dieser wohl kaum selbst standhält.

   dogma

Dath zieht eine nicht ungefährliche Schublade auf, die nämlich, in der die Dämonen der Fleischhauers lauern, eine flache Kritik der nach-68er:

“In den siebziger und achtziger Jahren [...] verstand man unter Ideologie das schlechthin “affirmative” Denken und Reden, also jede Form der gesellschaftsbezogenen Äußerung, mit der vorhandene Widersprüche unzutreffenderweise als versöhnt dargestellt wurden.”

Das bürgt für Qualität: “Er gilt als …”, “Man versteht …” Wer bitte verstand das wo und woher hat er das bloß? Nein, affirmatives Reden ist nicht Ideologie. Ideologie ist hingegen affirmativ. Ideologie kennt nichts anderes als Bestätigung und daher keine Kritik. Nicht jedes Befürworten eines Zustandes ist aber deshalb gleich Ideologie.

Common Sense ist noch keine Ideologie

Und auch gesellschaftliche Widersprüche, die in Rituale übergehen, ein Habitus oder das, was man eben mitmacht, sind nicht unbedingt Ideologie. Common Sense ist nicht grundsätzlich ideologisch, deshalb taugen auch die Beispiele wenig, wie dieses:

“Wir trennen bereits den Müll, haben aber noch keine stimmige Energiewirtschaft”

Na und? Auf das eine hast du Einfluss, auf das andere nicht. Niemand behauptet, mit der Mülltrennung sei alles gut. Ich trenne auch Müll, obwohl die Energiewirtschaft für mich genauso eine Mafia ist wie die Entsorger. Wo ist jetzt das ideologische Moment? Und warum befragt Herr Dath ausgerechnet Lenin und Engels? Haben die auch ihren Müll getrennt?

“Vor dem Zweiten Weltkrieg gab es Leute, die sich auf den Begriff sogar positiv bezogen: Noch Lenin schreibt lobend von einer proletarischen oder dialektisch-materialistischen Ideologie, die er der von ihm abgelehnten bürgerlichen und idealistischen entgegensetzt.”

So, dann gehen wir doch bitte mal an die Wurzel des Begriffs. Er entstammt meines Wissens dem Enzyklopädismus, dem Versuch, das gesamte Wissen der Welt lexikalisch festzuhalten. Ein für das 18. Jahrhundert zeitgemäßer, wenn auch rührender Ansatz. Im Anschluss daran versteht man auch das Problem der Ideologie: Sie möchte vollständig sein, strebt zwangsläufig zum totalen Weltbild und gerät deshalb zu einer Ideenlehre, die schon bald nur mehr damit beschäftigt ist, auszuschließen anstatt zu erschließen. Sie verbreitet eine fertige Idee und entwickelt diese nicht weiter. Das ist der Kern jeder Ideologie. Dath schaufelt weiter die Kohlen in seine Lok, die leider auf dem falschen Gleis davon rattert:

Das sagt mir gar nichts

“Aber Engels sagt mehr. [...] Er sagt, was genau an der Sorte Bewusstsein falsch ist, die Ideologie produziert: Weil ihr Träger die in gesellschaftlichen Verhältnissen gebundenen Kräfte, die ihn bewegen, nicht kennt, imaginiert er falsche und vergisst, dass sein Denken von seinem Handeln abhängt”

Schön, dass Engels das sagt, mir sagt das aber überhaupt nichts. Warum muss man den Begriff “Ideologie” mit diesem Praxis-Schmarrn behaften? Warum kann ein theoretischer Versuch nicht theoretisch bleiben, vor allem aber: Warum muss ich den Umweg über ein “Handeln” gehen, wenn Ideologie auf der theoretischen Ebene, der sie angehört, bereits zum Scheitern verurteilt ist? Ihre Grundpfeiler, der Anspruch auf Vollkommenheit und die Anmaßung, Ideen zu lehren, sind vormodern. Deshalb taugt das Ganze nichts. Die Kritik Adornos und der Frankfurter Schule ging deshalb sehr viel tiefer als Dath sie vorführt: Sie richtet sich am Ende gegen jede Theorie, die ins Positive dreht. Einfach gesagt: Alles Wissen hat ein Haltbarkeitsdatum. Das ist es, was die Ideologen nicht begreifen.

Schließlich:

“Sozialkritik, die nicht ihre Positionen offen vermittelt mit der Praxis derer, die da reden, ist Anlauf zur Errichtung oder Verschärfung von Herrschaft”

ist die falsche Diagnose. Es ist recht verständlich, dass die Theorie der eigenen Praxis nicht unmittelbar widersprechen sollte. Sich von Mutti die Bütterkes schmieren lassen und die Weltrevolution planen kommt einfach nicht gut. Das ist aber nicht das Problem. Die Praxis derer, die da reden, ist bereits geprägt von den Möglichkeiten, die Herrschaft noch lässt. Hier ist Theorie geradezu darauf angewiesen, die Praxis virtuell außen vor zu lassen. Was Herrschaft errichtet und verschärft, ist die Gewalt der Ideologie: Ihre Propaganda.