In einem Interview mit Oskar Lafontaine zelebriert Ulf Poschardt für die “Welt” seine heillose Verstrickung in einen Sprachgebrauch, der nichts anderes mehr zulassen will als Definitionen, die der verinnerlichten Ideologie zuträglich sind. Während Lafontaine es sich nicht nehmen läßt, die Dinge so zu erläutern, wie er sie denkt, hält der Interviewer ihm die Arroganz medialer Definitionsmacht entgegen. Der Journalist will nicht diskutieren, er will Bedeutungen festgelegt wissen:

WELT ONLINE: Meinen Sie Chancen- oder Ergebnisgerechtigkeit?

Lafontaine: Das sind Täuschungswörter des Neoliberalismus. Schon von Chancengerechtigkeit zu reden ist angesichts der gravierend ungleichen Verteilung der Startchancen ein schlechter Witz.

Es soll nur als “Gerechtigkeit” gelten dürfen, was in den genannten Dualismus paßt. Selbstverständlich ist “Ergebnisgerechtigkeit” dann falsch, weil sozialistische Gleichmacherei. Es soll ergo nur “Chancengerechtigkeit” geben, die unter Hand als gegeben behauptet wird. Mit Recht hält Lafontaine dem die soziale Realität entgegen.

Lafontaine: All diejenigen, die die Menschen mit den Lügenwörtern des Neoliberalismus hinters Licht führen.

WELT ONLINE: Was ist aus Ihnen geworden, dass Sie das Wort „liberal“ als Schimpfwort einsetzen? Sie galten früher in der SPD als ein moderner Linksliberaler.

Die Gleichsetzung von “Neoliberalismus” mit “liberal” und der anschließende wirre Vorwurf zeugt von einem Geist, dem die Sprache abhanden gekommen ist. Es geht nur noch um das Hüben vs. Drüben der vermeintlichen ideologischen Gräben.

WELT ONLINE: Dann verstehen Sie sich als Liberaler?

Lafontaine: Moment. Ich will noch etwas sagen. Und drittens: Einer der Vordenker des Neoliberalismus, Alexander Rüstow, sagte, der Staat muss dorthin, wo er hingehört, über die Wirtschaft. Davon kann in einer Zeit, in der ein ehemaliger Bundesbank-Präsident zutreffend gesagt hat, die Finanzmärkte kontrollieren und beherrschen die Politik, nicht mehr die Rede sein.

WELT ONLINE: In diesem – zugegebenermaßen kruden Verständnis des Liberalismus – wären Sie dann ein Neo-Liberaler?

Was “krude” sein soll am Verständnis, erschließt sich mir nicht. Die Anschlußfrage taugt nicht einmal mehr zum schlechten Witz. Sie ist schlicht peinlich.

WELT ONLINE: Dennoch benutzen Sie das Wort „liberal“ in diesem Gespräch meist so, wie es im Augenblick viele benutzen: als Schimpfwort. Gemäß dem Diktum von Wittgenstein: Bedeutung entsteht im Gebrauch. Sie galten früher als Feingeist in der Politik, jetzt geben Sie den Polemiker. Macht Ihnen das Spaß?

Schimpfwort gemäß Bedeutung als Gebrauch, das ist also Wittgenstein? Und macht das Spaß? Wittgenstein kann leider nicht antworten, vermutlich würde er den Wörterkasper verklagen.

WELT ONLINE: Dafür erhalten die Arbeitnehmer einen Lohn.

Lafontaine: Das genügt nicht. Der Unternehmer kriegt neben dem Zuwachs des Betriebsvermögens seinen Gewinn und seinen Unternehmerlohn. Uns geht es nicht um die Enteignung der Unternehmer, sondern darum, dass die ständige Enteignung der Arbeitnehmer beendet wird.

WELT ONLINE: Sie betreiben Politik als Sprachspiel.

“Sprachspiel”, das ist dem verunsicherten Tendenzjournalisten jeder Widerstand gegen die selbstproduzierte Entmündigung. Wenn marktliberale jede Steuer als “Enteignung” bezeichnen und jemand daherkommt, der das Spiel von Zueignung und Enteignung aus seiner Perspektive beschreibt, sei das “Sprachspiel”. Ein toller Begriff vom großen Wittgenstein, der übrigens nicht das Mindeste mit dem zu tun hat, was der Interviewer hier auftischt. Ginge es nach diesem, dürften Politiker bald gar nicht mehr sprechen, sondern nur noch vorbeten.

WELT ONLINE: Hat die Linke noch nicht verstanden, dass ihre Form der Sozialtransfers das Prekariat in der Unmündigkeit, ohne Selbstverantwortung, hat verkümmern lassen?

Lafontaine: Wir haben einen anderen Begriff von Verantwortung als die Neoliberalen.”

Nun muß man zuerst einmal feststellen, daß nicht “die Linken” für “Sozialtransfers” verantwortlich sind, sondern die bisherigen Regierungen der Bundesrepublik. Die Behauptung, dies sei “Unmündigkeit, ohne Selbstverantwortung”, ist Neoliberalismus in seiner plattesten Prägung. Zum Thema “Verantwortung” werde ich mich in einem der folgenden Artikel noch auseinandersetzen. Selbstverständlich erklärt der Ideologe hier auch nicht, wie denn mehr “Verantwortung” und “Mündigkeit” aussähen und wer in der Wirklichkeit für was die Verantwortung trägt.

(Lafontaine):Im Zentrum des Christentums steht übrigens nicht Eigenverantwortung, sondern Nächstenliebe.

WELT ONLINE: Ja, aber die wird ja auch in Deutschland praktiziert.

Lafontaine: Na ja, Ihr Wort in Gottes Ohr.

WELT ONLINE: Sie wird in Deutschland sehr umfassend praktiziert. Also es gibt keine linke Form von Selbstkritik, was den Erfolg der Sozialleistungen betrifft?

Die Widerrede zeichnet sich einmal mehr dadurch aus, daß sie weder irgendwelche Fakten nennt, noch sich um eine Begründung bemüht. Ein seriöser Interviewer hält sich entweder mit seiner Meinung ganz zurück oder er steigt in die Diskussion ein. Poschardt hingegen weiß sich des Applauses der Rechten sicher, wenn er den Interviewten unprofessionell zurechtweist.

WELT ONLINE: Da sind sich ja alle einig. Ist ein Thema wie Sozialmissbrauch für Sie tabu?

Lafontaine: Ich habe kein Problem mit dem Thema sozialer Missbrauch. Es gibt auch Missbrauch sozialer Leistungen. Nur, wenn man über Missbräuche in der Gesellschaft spricht, dann darf man ?

WELT ONLINE: Jetzt kommen Sie wieder mit der anderen Seite.

Lafontaine: … nicht einäugig sein.

Deutlicher kann sich der Ideologe nicht entlarven. Er will, daß nur eine vorgefasste Meinung zur Sprache kommt. Die Assoziierung von “Sozialleistungen” und “Missbrauch”, die die Öffentliche Meinung beherrscht, soll gefälligst auch von der Linken übernommen werden. Dazu soll Lafontaine auf seine demagogischen Bezüge auf die Wirklichkeit verzichten. Großartig.

WELT ONLINE: Sie glauben weiter an den Segen der Umverteilung?

Lafontaine: Umverteilung ist ein klassisches Täuschungswort, das von denen missbraucht wird, die durch die Umverteilung der Erträge der Arbeit zu großen Einkommen und Vermögen kommen. In den letzten Jahren ist die Lohnquote um acht Punkte gesunken. Anders ausgedrückt: Hätten wir noch die Lohnquote des Jahres 2000, dann hätten die Arbeitnehmer 140 Milliarden mehr pro Jahr in der Tasche. Über diese gewaltige Umverteilung reden wir.”

Auch hier eine inhaltlich fundierte Meinung, die das Phänomen “Verteilung” aus einer übergeordneten Perspektive betrachtet. Das will aber die “Welt” nicht hören:

WELT ONLINE: Interessant: Wir finden keine gemeinsame Sprache.

Lafontaine: Sie müssen die Begriffe klären, sonst reden wir munter aneinander vorbei.

WELT ONLINE: Ihre Definitionen sind gut verständlich. Nur sind Ihre Definitionen nicht sonderlich marktgängig.”

Man muß für diese Offenheit geradezu dankbar sein, und hier gelingt dem Narren ein fürwahr fürstliches “Sprachspiel”. Er will Begriffe nicht klären, er will sie marktgängig angewandt wissen. Der Markt definiert die Begriffe – der Markt der Großverlage und der großen Marktteilnehmer, der Verdiener und Leistungsträger. Gleichzeitig soll der Begriff dem Markt dienen, seinem guten Ruf und denjenigen, die sich ihm verschrieben haben.

WELT ONLINE: Dann ist die Linkspartei im orwellschen Sinne eine Partei, die eine eigene Semantik aufbaut und einen Newspeak hat. Dann müssen Sie eigentlich vor allem dafür sorgen, dass die Wähler Ihre Definition teilen.

Nicht einmal Orwells “1984″ hat Poschardt begriffen, vielleicht sollte er noch einmal bei Pippi Langstrumpf anfangen. Der “Newspeak” ist die Vergewaltigung der Sprache durch eine diktatorische Herrschaft, bei dem Bedeutungen willkürlich besetzt werden und ihre strikte Anwendung Bürgerpflicht ist.
Wem in diesem Interview diese Rolle tendenziell zukommt, ist nur zu offensichtlich.