Archiv

Dezember 2010


In einer großen Rede wird die Kanzlerin das alte Jahr verabschiedet haben. Die Krise ist vorüber. Die Banken vertrauen wieder ihren Bürgern.
Jetzt müssen wir noch solidarischer werden. Die Menschen in aller Welt brauchen unsere Hilfe. Die Bundeswehr ist bereit.
Solidarität heißt aber auch, zu geben. Die Reformen müssen weiter gehen. Noch leben zu viele Wirtschaftsflüchtlinge hier. Sie müssen sich besser integrieren, vor allem in ihre Heimatländer.
Noch leben zu viele auf Kosten anderer. Wir werden eine gewisse Tranche abschneiden müssen. Fordern wir ihre Solidarität!
Und schließlich: Wir brauchen “Menschen, die etwas besser machen wollen, die sagen: Geht nicht, gibt’s nicht, die eine Idee haben und den Mut, sie auch umzusetzen“.
Für diesen Vorschlag könnte Frau Merkel einiges an Post bekommen. Aus Griechenland zum Beispiel.

Sie bläst jetzt also zum semantischen Bombenanschlag auf den nächsten Begriff. “Solidarität”, so werden wir lernen, ist die Einsicht in die Notwendigkeit von Krieg und Sozialabbau.

Ich wünsche dagegen allenthalben gute Ideen und den Mut, sie umzusetzen. Kommt gut rüber!

Der Jahresvorblick ergab folgende Wertungen der Kristallkugeljury:

Januar: Der letzte Wehrpflichtige der Bundesrepublik Deutschland wird gemustert. Bei der Liveübertragung des EKG (Eierkontrollgriff) wird erstmals das deutsche Internet abgeschaltet. Großherzog zu Guttenberg stellt die neue Leibstandarte 18 vor, die direkt dem Bundeskanzler untersteht.
Das verfassungsgerichtliche Ultimatum zu Hartz IV läuft ab. Das neue Gesetz sieht vor, den Bedarfssatz auf 300 Euro festzulegen, zukünftige Erhöhungen ausgeschlossen. Dafür werden Lebensmittel und Gebrauchswaren mit Preisbindung eingeführt, die Produktlinien “Monsanto Instant” und “Poco Standard Allday”.

Februar: In Buschehr (Iran) geht das erste AKW ans Netz. Zur Eröffnungsfeier schickt die Allianz der Willigen einige mittelschwer bewaffnete Kampfsjets, die über Jordanien kollidieren. Die Israelische Armee bombardiert daraufhin den Gazastreifen. In einer Email von Osama Ibn Laden, die 12 der 65 US-Geheimdienste für echt halten, ruft der Terrorfürst zum Jihad auf. Man müsse Irans Freiheit auch am Hudson verteidigen.
In Köln findet der Bloggerkongress “(Re)evolution” statt. Hier treffen sich linksliberale Premiumblogger mit Whistleblowern und Künstlern, um die Welt zu retten. Dies gelingt, hinterlässt aber eine menschenleere Erde. Schade.

März: Landtagswahlen in Hessen, Baden-Württemberg, Sachsen-Anhalt und Rheinland-Pfalz. Aus Kostengründen werden die Ergebnisse zusammengefasst. Roland Koch wird dreifacher Ministerpräsident. Roland und Bilfinger verschmelzen zu Roland Bilfinger Berger und werden Staatskonzern. Statt der Wehrpflicht gilt nun Beratungspflicht. Alles muss raus.
Bei den 20-Jahr Feiern des Sieges (Pauli gegen Bayern) setzen die Demonstranten erstmals Pfefferspray und Wasserwerfer gegen die Polizei ein. Ein Sprecher der Davidwache: “Klei mi am Mors, Respekt!”.

April: Die Queen feiert noch schnell ihren 85., ehe Prinz William und Kate Hesketh-Fortescue sich in North Cothelstone Hall das Yesword given. Zwischen Middelthrism und Nether Addlethorpe kommt es zu antiroyalistischen Kundgebungen zweier Punks, die spontan vom Lynch gemobbt werden.
Zuvor wird sich Vizekaiser zu Guttenberg am 01.04. mithilfe der Leibstandarte an die Macht geputscht gehabt haben. Futur II und III werden verboten. Da aufgrund des unglücklich gewählten Datums niemand den Staatsstreich ernst nimmt, erklärt sich von von zuzu Guttenberg zum Kaiser des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nationen. Seine Beliebtheit steigt damit erstmals auf über 100%.

Mai: Bei den traditionellen Maikrawallen in Berlin setzt die Polizei erstmals Pflastersteine und Molotowcocktails ein. Ein Sprecher der Autonomen dazu: “Leck mich am Arsch, Respekt!”
Beim Eurochanson de la Vision Grand de Prix gewinnt nach tumultartigen Auszählungen Lena. Valaitis. Ralf Siegel wird Reichskulturminister. Stefan Raab und Mario Barth zünden sich öffentlich gegenseitig an. Thomas Gottschalk moderiert. Die Tagesschau wird abgesetzt und durch den “Singenden Volksmusikboten” ersetzt.

Juni: Die USA besetzen Island.
Beim allerletzten Start des Space Shuttle sind Michael Moore und Julian Assange an Bord. Durch eine Verkettung dümmster Zufälle überleben beide. Vladimir Putin bietet ihnen Asyl.
Seuchenminister Rösler warnt vor der Hundegrippe. Die Pandemie kann durch den Kauf von 200 Millionen Impfdosen abgewendet werden. Rösler betont, deren abschreckende Wirkung habe das Virus in die Flucht geschlagen.

Juli: Der letzte Wehrdienstleistende wird rekrutiert. Man feiert ausgelassen bei Leber und Strohrum. Prinzessin Stefanie Zumzum überrascht die Gesellschaft mit ihrem Besuch und singt den Gassenhauer “Nackt im Spind, die Nachtschicht wütet”.
Vizekanzlerin Merkel fordert eine “Gemeinsame Lösung”. Sie beauftragt Josef Ackermann mit der Bildung einer Kommission. Zur Stützung systemrelevanter Banken wird eine Steuer auf Schulbücher erhoben.

August: Anlässlich des 50. Jubiläums des Mauerbaus wird die “Linke” verboten. Ulrich Junghanns hält eine viel beachtete Rede über die Segnungen der Sozialen Marktwirtschaft.
Es ist heiß. kurze Höschen und so. Wann bin ich endlich zu alt?
Zur Stützung des Euro wird eine Steuer auf kaltes Wasser erhoben.

September: Feynsinn wird 6 und widmet sich neuer Themen: Frauen mit beschädigter oder fehlender Kleidung, die Hitlers, Anlagetips für Insider. ‘Flatter’ wird Redakteur beim “Spiegel”.
Der Papst kommt nach Thüringen. Großer Exklusivbericht bei Feynsinn. Ich darf dem Heiligen Vater den ******* Ring küssen.
Bei den Präsidentenwahlen in Ägypten erhalten Husni und Gamal Mubarak je 100% der Stimmen. Glückwunschbotschaften aus aller Welt loben die gefestigte Demokratie am Nil.

Oktober: Anlässlich des 50. Jahrestags des “Massakers von Paris” brennen landesweit die Autos. Präsident Sarkozy de Funes hebt die Unabhängigkeit Algeriens wieder auf.
Der Deutsche Bundestag verlängert das Afghanistan-Mandat bis 2020. Dies sei erforderlich, weil ohne die Demokratie am Hindukusch auch die in der Heimat verloren wäre, so Verteidigungsminister Gabriel.

November: Am 25. Jahrestag des Sarkophags von Tschernobyl beschließt das Bundesatomkraftamt den Bau 25 neuer AKWs in Zusammenarbeit mit der russischen Atomprom. Die Reaktoren sollen in Polen gebaut werden, rechtlich aber den Nachbarländern gehören.
Am 11.11.’11 finden bundesweit Massenhochzeiten unter Kamelle- und Weinzwang statt. Der gesetzliche Feiertag wird mit Zustimmung der Gewerkschaften durch zwei Urlaubstage kompensiert.

Dezember: Die Kaiser Franz und Karl-Theodor rufen unter frenetischen Jubel der Massen gemeinsam zur totalen Mondfinsternis auf. Der Trabant tritt von Schamesröte gezeichnet in den Erdschatten ein.
Der Aufschwung darf nicht gefährdet werden: Weihnachten wird ausgesetzt und soll in einem der kommenden Jahre an einem Wochenende nachgeholt werden. “Das hat uns letztes Jahr auch nicht geschadet”, so BDA-Chef dicker Dieter Hundt.

 
grueneDaniel Cohn-Bendit, der Revolutionsführer von ’68, hat die Demokratie endlich von den Füßen auf den Kopf gestellt und ist vom Revoluzzer-Impetus über die Basisdemokratie schließlich bei der Verherrlichung der Obrigkeit angekommen. Wer seine Wurzeln verleugnet, ist nur ein Wurzelverleugner, das kann niemanden mehr beeindrucken. Leute wie Dandy le Rouge aber greifen auch noch nach dem Unkrautvernichter, damit nichts mehr dort wächst, wo sie herkommen. Was Schröder mit der Unterschicht gelungen ist, holen die Grünen Jungs jetzt mit den außerparlamentarischen Bewegungen nach: Diskriminieren, verleugnen, verleumden.

Im Interview mit dem Tagesanzeiger lässt er sich soufflieren:

Beobachten wir im Moment nicht das Gegenteil? Dass sich Bürger in sogenannte Wutbürger verwandeln und sich in Stuttgart, Gorleben oder an den Wahlurnen über demokratisch gefasste Entscheide oder das Völkerrecht hinwegsetzen?
Sie haben recht. Wir haben es im Moment mit den gefährlichsten populistischen Strömungen zu tun.”

“Wutbürger” am Werk

Zwar bezieht sich der ehemalige Revoluzzer hauptsächlich auf die politische Rechte und diskriminierende Volksabstimmungen gegen Ausländer, aber er hat auch gar kein Problem damit, dass deren Scharfmacher mit Protestlern aller Art in einen Topf geworfen werden. Gorleben, Stuttgart, das Minarettverbot – alles eine Pampe. Dort sind “Wutbürger” am Werk und machen “Stimmungsdemokratie”, dabei haben wir doch demokratisch legitimierte Instanzen, die das für uns alles viel besser machen.

Das Establishment nämlich hat die Rationalität auf seiner Seite, der Protest dagegen ist etwas für Doofe und Hysterische:

Es mag richtig sein, gegen dieses Projekt (S21) zu sein. Wenn ich aber sehe, dass in Stuttgart Menschen in hysterische Schreikrämpfe ausbrechen, wenn ein Baum gefällt wird, muss ich mich selbst fragen, ob wir mit unserer gefühls- und ichbezogenen Politik nicht der rationalen Politik den Teppich unter den Füssen weggezogen haben.”

Gefühlsduselige Idioten

Wer glaubt, die Grünen seien auf Seiten protestierender Bürger, sollte diese Worte nicht vergessen. In guter sozialdemokratischer Manier steht bei den Grünen vor Ort einer, der sich als ‘Kämpfer für die Sache’ geriert, während oben schon der Rollback proklamiert wird, im Namen der “Vernunft”, die hier wohl synonym ist mit kalkulierendem Machtgebaren. Ausgerechnet die Gegner von Stuttgart 21, die das Projekt trocken in Grund und Boden argumentiert haben, führt Cohn-Bendit hier als einen Haufen gefühlsduseliger Idioten vor.

Die Frankfurter “Realos” der Grünen haben schon immer das Recht gepachtet und sich als inkarnierte Stimme der Vernunft aufgespielt, ganz gleich, was sie gerade für ihre Position hielten. Inzwischen wird dieses Gehabe zum letzten Inhalt. Zum politischen Establishment zu gehören, das ist rational. Alles andere eben nicht. Dabei kommt einem halbgare Medienschelte ganz zupass:

Schauen Sie: Die britischen Massenmedien haben die britische Politik kaputt gemacht, die «Bild»-Zeitung die deutsche Politik, und in Österreich wütet die «Kronen Zeitung». Was ich meine: Die Fähigkeit von Politikern, sich einem diffusen, immer wechselnden Angsttrend zu stellen, hat sich reduziert, weil sie befürchten, die nächsten Wahlen zu verlieren.

Ich bin jetzt hier oben

An dieser Stelle hätte ich gern etwas darüber erfahren, wer denn dieses oberflächlich richtig beobachtete Phänomen korrigieren soll. Ausdrücklich soll die Basis ja den Rand halten. Dass der Kapitalismus nicht nur aus Banken besteht, dass die öffentliche Meinung von Medienindustrie, Meinungsproduzenten und Politik Hand in Hand bestellt wird, hätte hier Erwähnung finden können. Dass sich daraus ein Hauptmotiv der als “Wutbürger” diffamierten Protestler ergibt. Das wäre rationale Kritik gewesen. Cohn-Bendit hält es allerdings lieber mit eitlen Urteilen über Menschen, die er nicht mehr versteht.

Deshalb gelingt es ihm auch so mühelos, engagierte Demokraten mit ausländerfeindlichen Deppen in einen Topf zu werfen. Dass die willig aufgehetzten Islamophobiker nämlich der Inhaltslosigkeit einer Politik von Herrenmenschen zu deren Machterhalt auf den Leim gehen, wäre die Diagnose. Das ist das Gegenteil dessen, was sich in Stuttgart und Gorleben abspielt. Dem Machtpolitiker sind Proteste ein Dorn im Auge, und das ist seine Message: Ich bin jetzt hier oben. Ihr da unten habt zu schweigen.

Nicht auszudenken, jemand sägte nicht Bäume ab, sondern den Ast, auf dem der Herr sitzt. Angesichts solcher Baumpflegearbeiten gäbe es sicher keine “Schreikrämpfe” mehr, sondern obendrein lauten Jubel. Das kann ja nur irrational sein.

In einem auch im Ganzen interessanten Interview mit der TAZ legt Uwe Lehnert den Kern des politischen Christentums bloß:

Nach meiner Erfahrung sind die meisten Kirchgänger Traditionschristen. Sie machen mit, was sie mal gelernt haben, finden das ganz schön und sehen keinen Grund, daran etwas zu ändern. Ihr Christentum besteht aus einer allgemeinen Gottgläubigkeit und dem Wunsch, als guter Mensch zu gelten.”

kreuzschau

Dieser auf den Punkt gebrachte biedermännische Prozess der Anpassung an eine Gesellschaft ist der Kern des Konservativismus. Er versucht nicht etwa etwas zu erhalten, das er zuvor als wertvoll erkannt hat, sondern beruht auf zwei Wünschen: Ich will dazugehören und ich will, dass sich nichts grundlegend ändert.
Diese Wünsche und ihre Projektionen sind ungemein stabil, und sie vermögen sich gegen Wirklichkeit bis zur Paradoxie abzuschotten. Auch dies ist bereits im christlichen Grundgerüst angelegt:

Dieser Opfertod soll mich von meinen Sünden befreien. Das ist steinzeitliches Denken. Damals brachte man den Göttern Opfer, um sie gnädig zu stimmen, in ganz dramatischen Situationen opferte man sogar den Erstgeborenen. Heute noch so zu denken, finde ich geradezu absurd. Fällt einer allmächtigen Gottheit nichts anderes ein als eine grausame Hinrichtung, um sich mit uns zu versöhnen?

Warum sollte ihr, wenn sie damit so erfolgreich ist? Wäre der christliche Sadomasochismus wie alle anderen Produkte dieser Art nur für Erwachsense freigegeben, hätte sich diese Religion bereits erledigt. Das “steinzeitliche Denken” aber, mit seinen Drohungen, starken Reizen und Absurditäten, ist bestens dazu geeignet, Kinderpsychen zu programmieren. Allmacht und Paradoxie, das sind die Bausteine der grundlegenden Prägungen – einschließlich der traumatischen.

Steinzeitliches Denken

Was so angelegt ist, wird man nicht mehr so schnell los. Es fordert Wiederholung und Ritual, und siehe da: Alles schon fertig vorbereitet und aufgetischt. Der Leib Christi, Amen!
Längst aber sind solche Wunschkonstellationen nicht mehr auf die Kirchen angewiesen. worüber diese ja auch laut zetern. Dazugehören und sich nicht auf veränderte Realitäten einlassen müssen, dieses gemütlich-reaktionäre Weltbild wird reichlich bedient, absurd bis zur Lähmung zwar, aber immer gern genommen. “Zeitungen”, Werbung, Politiker und Lobbyisten verkaufen und versorgen uns täglich mit Formeln, die auf jede Lebenslage gleich passen. Eigentlich nämlich gar nicht, aber wer fest steht im Glauben, den ficht das nicht an.

Wer sich daher wundert, wie sehr sich scheinbar gegensätzliche Gesellschaftsentwürfe in der Realität ähneln und sich auf die Dauer immer mehr annähern, der muss zur Kenntnis nehmen, das hier archaische Kräfte im Spiel sind, die zu unterschätzen ein großer Fehler wäre. Zuallererst ist die Kränkung hinzunehmen, dass der Verstand nur ein Symptom ist und nicht Herr im Hause.

Schon Freud hat die Konstruktion der Realität als Alternative zur Halluzination beschrieben. Wohlgemerkt: Die Halluzination hat die älteren Rechte. Erst durch die Abwehr des Wunsches, um dessen Erfüllung er mit dem Traumbild ringt, entsteht der Verstand. Er ist aber Sklave des Wunsches und Instrument zu dessen Erfüllung. Die Erfindung der “Vernunft”, des sich selbst leitenden Verstandes, ist ein Hirngespinst.

Vernunft, ein Hirngespinst

Es gilt also, ein Konstrukt zu finden, das möglichst alle Instanzen bei Laune hält. Wenn der Verstand nichts mehr zu meckern hat, ohne dafür betäubt zu werden, ist ein Optimalzustand gegeben.

freudmindDas Gebilde, das die äußerst unterschiedlich motivierten Anteile der Psyche versöhnen soll, hat Max Weber “Theodizee” genannt. Darunter ist eigentlich zu verstehen, wie die Religionen es fertig bringen, allmächtige Götter mit einer oft grausamen und ungerechten Wirklichkeit in Einklang zu bringen. Aber dahinter steckt mehr als bloß eine Frage der Religionssoziologie. Es gibt für alle Gemeinschaften und Gesellschaften ein schillerndes Regelwerk, das ‘Gut’ und ‘Böse’, ‘Zugehörig’ und ‘Fremd’ festlegt. Man schöpft quasi seine Identitäten daraus. Im Grunde ist da alles verhandelbar – zum Beispiel, wer Deutscher ist oder Schalker, Christ oder Rapper, Punk oder Banker. Es muss aber für jede Gruppe und damit Identität etwas geben, was sie tun und lassen muss.

Die (christliche) Religion hat dieses Spiel zur absoluten Sinn- und Inhaltslosigkeit perfektioniert. Der Erlöser ist schon lange tot und wird nicht wiederkehren. Im Diesseits gibt es entweder keinen Lohn oder er ist umso gottgefälliger, je mehr man scheffelt ohne etwas davon zu haben. Und für beides gilt: Jeder strickt sich das so zurecht, wie es ihm passt. Gott sieht zwar alles, aber er ist unfassbar gleichgültig. Das sind inzwischen auch seine Schäfchen. Eine soziale Kontrolle findet immer weniger statt. Es gibt für alles Entschuldigungen. Die 68er waren’s.

Du Opfer!

Auf dieser Basis blüht die geilste und dümmste denkbare Paradoxie: “Denke nur an dich, dann ist allen geholfen”. Dieses Leitbild ist so denkwürdig krank und unsinnig, dass ein ungetrübter Verstand sofort Alarm schlagen würde. Aber mei, absurd war schon immer hoch im Kurs bei uns. Es ist zwar völlig spinnert, aber es schmiegt sich dem eingespielt reaktionären Grundraster hervorragend an: Die Ordnung ist per se richtig. Oben ist oben, unten ist unten, und jeder kriegt, was er verdient. Alle dürfen vom Paradies auf Erden träumen, es gibt sie wirklich, die Milliardäre. Niemandem kann ein Vorwurf gemacht werden, wenn er rücksichtslos aufwärts strebt. Schuldig, eigenverantwortlich, sind allein die Opfer. Sie leiden zurecht, womit das große Dilemma perfekt gelöst ist.

Diese Halluzination wird zusammenbrechen, weil die Wirklichkeit am Ende doch immer siegt. Zur Not entledigt sie sich gleich der ganzen Menschheit. Der Neoliberalismus wird dann vermutlich mit wehenden Fahnen und einem beherzt gegrölten “Unentschieden!” untergehen.

Wer etwas anderes will, muss sich allerdings deutlich machen, dass jede Änderung auf Widerstand stoßen wird, allein weil sie eine ist. Er wird beachten müssen, dass ihm ohne ein großes Versprechen niemand folgen wird. Wer er es ehrlich meint, muss beides schaffen: Eine neue Illusion und den Blick für die Realität. Der Konkurrenz reicht derweil die erste Hälfte.

Es ist nicht alles wahr, was schwer erträglich ist, aber die Wahrheit zu ertragen, ist schon ein hartes Brot. Daher ist es umso schwieriger, Menschen zu erreichen, die täglich umworben und belogen werden, denen von den gierigsten Blutsaugern und den verlogensten Politikern die schönsten Illusionen serviert werden. Die allgegenwärtige Lüge der Marketingwirtschaft zwingt geradezu in die Scheinwelt, die Rationalisierung oder, um es mit dem Modewort zu sagen, in die fatalsten Strategien zur Glättung der kognitiven Dissonanzen.

werden

Jeder weiß, dass Werbung lügt. Doch Werbung ist überall. Jeder weiß, dass man hereingelegt wird, wenn man nicht aufpasst, aber wer will schon jährlich tausende Seiten AGB, Vertragsbedingungen und Klauseln lesen?
Jeder weiß, dass Parteien und ihre Vertreter nicht halten, was sie versprechen. Aber was soll man tun, wenn man wirklich von allen betrogen wird? Das kann doch gar nicht sein. Irgendwie muss das alles schon einen Sinn haben. Sie sagen es ja auch: Das ist alternativlos.

So macht man den Wahlzettel zum Denkzettel, wohl wissend, dass man sein Kreuz gerade bei denen macht, die einen zuletzt auch belogen haben. So zahlt man zähneknirschend die Rechnungen, obwohl man sich übers Ohr gehauen fühlt. Am liebsten würde man aber den Briefkasten zunageln.
Die Werbung zeigt einem glückliche Menschen, alle Konzerne umlullen uns, sie täten alles für “zufriedene Kunden”. Dennoch weiß jeder, was passiert, wenn man ein Problem hat. Man wird in einer Hotline behandelt wie Stückgut, und niemand schert sich einen Dreck um “Zufriedenheit”.

Wer will das schon wissen?

Selbst die Energiemonopolisten lassen stets verlautbaren, sie kämpften für eine saubere Umwelt und hätten nur unsere Zukunft, unsere Sicherheit und eine bessere Welt im Sinn. Derweil verpesten und verstahlen sie die Umwelt, plündern ihre Kunden und bestechen Politiker. Wer will das schon wissen?

Nein, wer Erfolg haben will, muss dem Menschen eine schöne, warme, herzliche Welt vorgaukeln. Und das Paradoxon wirkt, denn gerade, weil die Leute wissen, dass da draußen das Gegenteil an jeder Ecke lauert, hören sie sich das gern an. Da brauchen wir nicht auch noch Nörgler, die einem den Feierabend versauen.

Was haben wir diesen Leuten zu bieten? Wäre ich Optimist, ich ließe sie lustwandeln durch meine feine kleine Welt, in der die Lügen ein Ende haben. In der es eine Gemeinschaft gibt, die für die Versorgung aller arbeitet. Die wirklich erst alle warm, satt und trocken sehen will, ehe sie sich Statussymbolen und Eigennutz zuwendet. Wo man sich das, was man zum Leben braucht, nicht durch Zwangsarbeit “verdienen” muss. Wo es ein Recht gäbe, das Vertragspartner gleichstellt, eine Justiz, die sich jeder leisten kann und die man noch mit etwas Mühe versteht. Wo Korruption auf ein Mindestmaß begrenzt würde, weil sie nicht erlaubt wäre.

Keine Angst

Niemand müsste Angst haben, obdachlos zu werden oder zu hungern, für Verträge vor Gericht gezerrt zu werden, von denen man gar nicht wusste, dass man sie abgeschlossen hatte. Man wüsste, dass sich auch im Alter noch jemand kümmert, ohne dass man dafür reich sein muss.

Statt hektischer Konkurrenz herrschte entspannte Kooperation. Man flöge zwar nur noch alle drei Jahre in Urlaub und australischer Wein bliebe echten Liebhabern vorenthalten. Man hätte dafür aber die Zeiten endgültig hinter sich gelassen, in denen man befürchten muss, hinter der Grußformel “Guten Tag” versteckte sich bereits ein kostenpflichtiges Abonnement.

Da sind wir noch lange nicht, und weil die Hoffnung eben sehr vage ist, dass wir je dorthin gelangen, gebietet es die Ehrlichkeit – sich selbst und anderen gegenüber – nicht so zu tun, als wären wir auf dem besten Wege. Eines aber darf ich bei allem Realismus feststellen:
Schön wär’s schon.

Eine hervorragende Zustandsanalyse des deutschen Bürgertums hat Christian Schlüter in der FR hingelegt. Ich könnte gleich mehrere Absätze ztieren, einer aber hat es mir besonders angetan, weil er sich deckt mit meinen aktuellen Beobachtungen aus dem Polit- und Talkshowgeschäft:

Kennzeichnend ist dabei die zunehmende Unverschämtheit. Es wird beleidigt und verunglimpft, verkürzt und betrogen, vor allem aber: keine Rücksicht mehr genommen. Die Regeln des Anstands sind genauso außer Kraft gesetzt wie die elementaren Prinzipien intellektueller Redlichkeit.”

brainpipeVor allem letzteres hat deprimierende Züge angenommen. Man fragt sich, wo sie denn sind, die Intellektuellen, die noch mehr zu tun imstande sind als Phrasen und Parolen in affektiert genäselte Vorträge zu verpacken. Man fragt sich, wie eine Riege von untalentierten Schönschreibern die Redaktionen stürmen konnten und wieso derlei Dilettanten auch noch herumgereicht werden. Schlüter selbst nennt Broder, und allein die aktuellen und ehemaligen “Spiegel”-Redakteure, aber auch die ‘Spitzenkräfte’ von “Zeit”, FAZ, SZ usf. bestechen nicht mehr durch Recherche oder Analyse, sondern nur mehr durch ressentimentgeladenes Geschwurbel und auf Parolen gekürzte Scheinargumente.

Prinzipen intellektueller Redlichkeit

Mohr, Mahlzahn, Joffe, Schirrmacher, Beise, Steingart, Matussek – man weiß nicht wo man anfangen und aufhören soll bei der Aufzählung hochbezahlter Flachverblender. Gerade gestern noch entblößte der sogenannte “Kulturjournalist” Matussek seine ganze intellektuelle Erbärmlichkeit, indem er feststellte, in den 50er und frühen 60er Jahren habe es in katholischen Internaten keinem Kindesmissbrauch gegeben. Sein Beleg: Er und Heiner Geißler waren Internatsschüler und wurden nicht damit konfrontiert. Diesen gröbsten annehmbaren Unfug stellte er in die Nähe von Mixas unfassbarer Lüge, “die 68er” seien schuld daran, dass Pfaffen Kinder vergewaltigt haben.

Jemand, der so argumentiert, tritt in der Tat die “elementaren Prinzipien intellektueller Redlichkeit” mit Füßen. Dazu muss man Matussek übrigens nie für einen Intellektuellen gehalten haben. Er mag nicht besonders klug sein, aber er weiß, dass er lügt. Was will ich mit so einem? Was ist das für ein kognitiv verkommenes Bürgertum, das sich von solchen Leuten die Welt erklären lässt?

Ich glaube, was mir die größten Sorgen bereitet derzeit, ist dass die Verblödung derart durch alle Schichten geht, dass auf keiner Seite mehr relevante Kräfte stehen, die irgend eine Idee haben, die auch nur wissen wollen, was sie tun. Wer ein ‘revolutionäres Subjekt’ sucht, macht sich ohnehin lächerlich, aber selbst die Reaktion ist auf den reinen Reflex zusammengeschrumpft. Was bleibt, ist das ‘System’, eine formlose anonyme Kraft, deren Zwänge Gesetz sind. Dass “alternativlos” offenbar zum Unwort des Jahres gewählt werden soll, kommt insofern um Jahre zu spät, wenn nicht um Jahrzehnte. Die Alternativen nämlich scheinen erfolgreich ausgemerzt worden zu sein.

Die Deutsche Bank zahle 553,6 Millionen Dollar. Dafür würden alle Ermittlungen eingestellt, die es im Zusammenhang mit steuerbezogenen Geschäften für Kunden aus den Jahren 1996 bis 2002 gegeben habe”,

zitiert die Frankfurter Rundschau, und weiter:

Die US-Behörden gehen davon aus, dass ihnen durch die Steuerhinterziehung der Deutsche-Bank-Kunden in den Jahren 1996 bis 2002 Einnahmen in Milliardenhöhe entgangen sind.”

Der Staat, die Steuerzahler, werden durch die Bank um Milliarden geprellt, und als “Strafe” wird ein Bruchteil des Schadens festegelegt. Dafür darf der marode Haushalt dann auch noch Ihro Systemrelevanz aus faulen Krediten herauskaufen. Das ist schon keine Klassenjustiz mehr, das ist Beihilfe zur Plünderung.

 
eiszeit
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
Da wächst zusammen, was zusammen gehört. Ein SPD-Bürgermeister kandidiert für die NPD. Ich muss gestehen, irgendwo in mir sitzt immer noch ein kleiner “Sozi” aus der Ära Willy Brandts und heult. Der Rest kriegt das kalte Kotzen.

Heißen Dank für das Bild an Bernd S.

 

Klaus Baum hat ein wichtiges Anliegen. Es ist zwar ‘privat’ motiviert, weist aber auf ein allgemeines Problem hin, zu dessen Lösung viele von uns beitragen können. Einfach mal auf einen Zettel schreiben und den so lange hängen lassen, bis eine Entscheidug getroffen ist.

 
schtzngrbnFlavius F. (Name geändert) ist Blogger im winterlich verschneiten Deutschland. Er sitzt in seinem beheizten Essraum, bei Kaffee und Toast, eine Scheibe Käse, Holzdielen. Er hat Hunger. Bärenhunger.
Der Alltag hat ihn im Griff, aber noch ist er beim angenehmeren Teil des Tages. Er isst.
Der Kaffee, ein Produkt aus dem Supermarkt mit zweifelhaftem “Fair Trade”-Label, dampft mächtig. Er ist kochend heiß.
Die Zähne des promovierten Politbloggers, der im lässigen Ambiente seines Heims auf die Anrede “Herr Doktor” verzichtet, zermahlen mitleidslos Gebäck und Auflage. Er isst.

“Was hat er bloß?” mag sich mancher jetzt fragen, und freimütig anfügen: “Wohl einen an der Murmel?”. Einen Anfall gewisser Übelkeit hat er angesichts des Rückfalls in publizistisches Säbel Polieren, wie ihn Michael Schmidt im “Tagesspiegel” hingelegt hat und der dann auch noch bei der “Zeit” zweitverwertet wurde. Was tröstet, sind viele Leserkommentare, die das Tamtam – Geschwurbel auf breiter Front “Landserromantik” nennen und die journalistische Pflicht anmahnen, gefälligst Zusammenhänge herzustellen: Wer hat das entschieden, wie wurde es begründet, was ist die Wirklichkeit? Bislang war freilich keiner dabei, der das stilistische Kriegsverbrechen einer Stilanalyse unterzogen hat.

Timmy hat es erwischt

Ich habe mir daher erlaubt, mit dem ersten Absatz darauf hinzuweisen, wie man Banalitäten durch sloganhaft verkürzte und taktisch platzierte Knallsätze aufblasen kann. Diese stilistischen Eyecatcher bedienen Reflexe und lassen keine Fragen mehr zu. Sie wirken wie Befehle – hier gibt es nichts zu diskutieren, hier wird weitermarschiert, bis zur letzten Zeile.

Die Soldaten haben Angst. Todesangst.”
“Sie kämpfen.
Sie schießen.
Und sie töten.
“Timmy hat es erwischt.

Kontrastiert werden diese Ein-Satz Einsatzweisheiten durch die Lässigkeit des Soldatenalltags, der allein schon durch das pseudo-fachmännische Blabla von Waffen, Rängen und Truppeneinheiten hergestellt wird. Die werden einfach genannt, als ob irgendwer wüsste, was sie bedeuten und was man sich darunter vorzustellen hat. Frei nach dem Motto: Das weiß der soldatische Leser doch.
Die Truppe, das sind “ein schlaksiger Kerl”, ein Hauptmann mit “schnodderigen Ton”, ein Kompanieführer “mit seinen Männern” (das kennen wir so von Konsalik, da gab es noch keine Frauen in der Truppe), für die es “noch härter kommen wird” – was aber “keiner ahnt“. Hätten sie doch nur den Schmidt gefragt!

Das Gegenteil von Aufklärung

killykitschDer Kitsch trieft aus allen Zeilen, da sind gebrochene Metaphern ebenso gefragt wie effektheischende ‘Beschreibungen’, die nichts berichten, sondern sich eine Atmosphäre zusammenlügen:
Da wischen sich welche “Staub und Erschöpfung aus dem Gesicht“. Was gäbe ich dafür, mir Erschöpfung einfach abzuwischen. Ich muss dann immer erst mal schlafen.
Versonnenen Blicks hängen sie ihren ganz eigenen Erinnerungen nach“, heißt es über andere. Die gucken alle gleich, und zwar “versonnen”. Solche misslungenen Regieanweisungen finden sich in solcher Literatur en masse, Hedwig Courths-Mahler lässt grüßen. Dass sie schließlich “ihren ganz eigenen Erinnerungen” nachhängen, erkennt der Fachmann am Blick, der so ist, weil sie’s tun, ist doch tautologisch. Ein Schelm, wer fragt, was ganz eigen ist im Vergleich zu einfach nur eigen oder noch einfacher Erinnerung. Fremden Erinnerungen nachzuhängen stelle ich mir jedenfalls recht schwierig vor.

Es soll an dieser Stelle reichen. Gäbe es ein Kriegspropagandaministerium, Michael Schmidt wäre ein heißer Kandidat fürs gehobene Personal. Mit Bericht hat sein Schrieb so wenig zu tun wie mit Kommentar, und er ist das denkbar erbärmlichste Gegenteil von Aufklärung. Dem Verlag scheint das außerordentlich zu gefallen, während die Leser erschreckt und fremdbeschämt reagieren. Es ist ja auch wirklich eine Schande.

Einen noch, der belegt, wie derlei Kitsch und Pathos fast immer ins unfreiwillig Komische torkeln:
“Sie spielen Karten, lesen Sarrazin, den ‘Spiegel’ oder ‘Landser’. “ In dieser Reihenfolge, das passt schon. Wie schön, dass durchs Kartenspiel auch der Geist ein wenig angeregt wird.

Zum Schluss noch ein Literaturtip: “Deutscher Kitsch” von Walther Killy. Das Buch ist ungemein lehrreich und dabei durchaus unterhaltsam.

Nächste Seite »