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Oktober 2010


Welch ein Segen für Boulevard und Trash-TV. Die schnittige Ministerschnitte, edel von Blut und Adel von Figur, im Kleidchen der Unschuld auf der Jagd nach Pädophilen. “Unschuld in Gefahr”, das ist ein heißes Motto für die Genitalgegend der Lolita-Liebhaber ebenso wie für die Tränensäcke lustvoll schockierter Großmütter. Das arme Wurm, so jung und schon vergewaltigt!

engelfrankNaja, es ist halt nicht so einfach, an echte Opfer heranzukommen. Womöglich sind die noch selber schuld oder erweisen sich als ganz und gar unästhetische Fälle, psychische Wracks, die sich einen Fettpanzer anfressen und dergleichen. Oder es stellt sich heraus, daß die Bereitschaft zum schnellen Kontakt einer gewissen Übung entspringt, weil Papi schon viel früher ihr Liebhaber war.

Man weiß es nicht, und wer noch halbwegs bei Verstand ist, will es auch gar nicht wissen. Kindesmißbrauch ist kein Spaß fürs Familienfernsehen und kein Catwalk für Schutzengel. Was es für die Opfer ist, wissen nur die Opfer. Für Helfer, denen wirklich etwas an den Opfern liegt, ein knallharter Job, in dem es inmitten der gröbsten Unbilden auf höchste Sensibilität ankommt. Wer derart bis zu den Knien in der Scheiße steht, gibt in der Regel keinen gloriosen Schutzengel ab und muß obendrein damit rechnen, auf nichts als Undank zu stoßen.

Prinzessin Stephanie zu Guttenberg hat sich die Sache daher fein zurechtschminken lassen. Sie nett und adrett im Studio, ihre Jagdgesellschaft am PC und in geschützten Räumen, in denen dann vor der Kamera ein bißchen ‘Pädophilie light’ gegeben wurde. Für jeden bösen Kinderschänder aus dem bösen Internet erhoffte sie sich wohl einen Gummipunkt auf dem Weg zur Heiligsprechung. Ganz en passant sollten die Zuschauer in dem Glauben bestätigt werden, daß dort – im Internet – die Horden der Abartigen nur darauf warten, sich auf junges unschuldiges Blut zu stürzen.

Nichts ist für eine solche Show zu zynisch, nichts zu lächerlich. Der Lockvogel freut sich schon diebisch darauf, wie der Perverse am Ende hochgenommen wird. Daß in freier Wildbahn die Mädels in der Regel weniger erpicht sind auf ein Blind Date mit Hannibal Lecter, who cares? Hier sorgt der Sender für den letzten Schliff zur Quote.

Das Konzept ist hirnzerreißend und abgefuckt genug für ein paar ansehnliche Magenkrämpfe. Daß sich aber eine Ministergattin diesem Mist nicht nur hingibt, sondern ihn auch noch für ein Zeichen besonderen Engagements hält, ist der Gipfel bitterböser Realsatire. Wenn diese Barbie ins Kanzleramt einschwebt, sind wir endgültig im Operettenstaat angekommen. Die Gala lesende Mehrheit kann sich dann an Pomp und Tüll ergötzen, während in den Nebenstraßen die Knüppel sprechen. Da wüchse wohl zusammen, was sich für eine echte Bananenrepublik gehört.

Es ist nicht wirklich erstrebenswert, ein Leben lang seine Arbeitskraft zu verkaufen, um vom Erlös das Nötigste für den Alltag zu haben. In den 70er Jahren noch war der gefühlte Wohlstand der Massen in den Industrieländern so groß, daß man sich nahe einer Utopie wähnte, die ein anderes Leben versprach. Weniger Arbeit bei höherer Produktivität, eine logische Folge des technischen Fortschritts, sollte zu einer glücklichen Gesellschaft führen. Diese Rechnung haben die Träumer freilich ohne den Kapitalismus gemacht. Wer glaubte, die bedrückende Konkurrenz würde sich angesichts immensen volkswirtschaftlichen Reichtums verflüchtigen, sieht sich des Gegenteils belehrt.

Es ist gelungen, den Wettbewerb zu einer mythischen Größe zu stilisieren, gleichzeitig Bedrohung und Ideal, Problem und Lösung. ‘Wir’ stehen im ständigen Konkurrenzkampf mit äußeren Mächten, und um diesen zu bestehen, müssen wir uns im Inneren stählen. “Höchste Leistung bei geringsten Kosten” ist die Devise, die nationale Konkurrenz um eine Arbeit, von der man leben kann, sei der Weg, in der internationalen Konkurrenz zu bestehen.

hivDaß dies nicht zu einem freien Fall von Löhnen und Gehältern führt, dafür soll ebenfalls der Markt sorgen. Spätestens an dieser Stelle kratzt man sich den Kopf wund bei dem Versuch, der Logik solchen “Marktes” noch zu folgen.
Daß es in Deutschland Tariflöhne gibt, erweist sich in diesem Zusammenhang schon lange als fatal, denn die Gewerkschaften verhandeln seit Jahrzehnten gegen ihre eigenen Interessen und schließen regelmäßig Verträge ab, die deutlich hinter der Produktivitätsentwicklung und der Preisentwicklung zurück bleiben. Ein Arbeitnehmer, der hier für sich selbst spräche, hätte den Arbeitgebern längst seinen schönsten Finger gezeigt. Die Gewinne steigen und ich soll verzichten? Schönen Dank auch!

Nichts zu verhandeln

Daß es hier zu keiner echten Verhandlung kommt, der Markt außer Kraft gesetzt wird, dafür haben zuletzt zwar schon die Gewerkschaften gesorgt. Dies kann man freilich nicht ihnen allein ankreiden, denn sie verhandeln aus einer Position der Schwäche. Arbeitnehmerrechte wurden seit den 80er Jahren massiv abgebaut, vor allem werden sie unterwandert durch Leiharbeit, befristete Arbeit, Massenarbeitlosigkeit und Arbeitszwang. Gerade die Empfänger niedriger Löhne haben überhaupt keinen Spielraum. An ihrer Stelle warten bereits Massen von ALG II-Empfängern, die jeden Job zu jedem Preis machen müssen. Staatliche Erpressung ergänzt an dieser Stelle private Lohndrückerei. Mit “Markt” hat das nichts zu tun.

Obendrein haben sogenannte “Investoren” durch die irsinnige Deregulierung der Wettmärkte längst Möglichkeiten gefunden, Gewinne zu erzielen, ohne daß noch irgendwer dafür etwas produziert oder eine Dienstleistung erbringt. Einzig diejenigen, die solche Geschäfte abwickeln, sind dazu noch notwendig. Dies sind eine überschaubare Anzahl von Bankmitarbeitern und wenige obszön überbezahlte Experten. Ausgerechnet in einem Sektor, der realwirtschaftlich absolut nichts leistet, werden absurde Gehälter ausgereicht, und zwar vollkommen unabhängig von der Qualität des Schaffens. Machen sie Gewinne, bekommen sie Millionen. Führen sie ihre Firma in die Pleite, bekommen sie Millionen. Wäre dies noch “Markt”, müßte die Nachfrage nach dreisten Dilettanten ganz enorm sein.

Man kann beinahe ansetzen, wo man will, es will so recht nicht Marktwirtschaft sein, wo es um Löhne geht. Man stelle sich nur einmal vor, die Arbeitgeber würden mit Zwangsmaßnahmen wie völliger Enteignung sanktioniert, wenn sie nicht ausreichend Arbeitnehmer zu einem staatlich geforderten Lohn einstellen. In dieser Situiation ist auf der anderen Seite ein Hartz-IV-Empfänger. Was gibt es da noch zu verhandeln?

Wettbewerb, ein lächerliches Argument

Es gibt keinen Arbeitmarkt. Schon gar nicht wird es je wieder Vollbeschäftigung geben. Das kann auch niemand anstreben, der die schlichten Fakten zur Kenntnis nimmt. Die technische Entwicklung macht Arbeit zunehmend unnötig. Es gab seit Jahrzehnten nirgends mehr Vollbeschäftigung. Wir haben Jahrzehnte der Massenarbeitslosigkeit erlebt in der stärksten Exportwirtschaft der Welt. Wettbewerb? Ein lächerliches Argument.

benqDabei wäre Massenarbeitslosigkeit in einer humanen Gesellschaft ein absolut wünschenswerter Zustand. Allein schon um eine Reserve zu haben, die schwankende Nachfrage nach Arbeitskräften unter unterschiedlichen Bedingungen befriedigen kann. Wer gebraucht wird, packt an, wer nicht gebraucht wird, hat eben Muße. Die könnte durchaus produktiv sein oder für die Bildung genutzt werden. Würde man die nur anbieten, anstatt sie künstlich zu verteuern, zu verknappen und planwirtschaftlich auf angebliche Bedürfnisse der Industrie zurichten. Auch hier keine Spur von einem Angebot, das sich einer freien Nachfrage anpassen könnte.

Es soll an dieser Stelle genug sein. Wohin man auch schaut, es findet sich so recht kein “Arbeitsmarkt”. Nicht einmal eine Marktwirtschaft ist in Sicht, wo immer es um die Verteilung des Reichtums und der Gewinne geht. Das wirkliche wirtschaftliche Geschehen folgt offenbar noch ganz anderen Gesetzen.

Die Parole “Ausländer aus” oder “Deutschland den Deutschen” gilt inzwischen als gestrig, was sogenannten Konservativen nicht durchgehend behagt. Zumindest benötigen sie daher etwas, das an die Stelle solch eindeutiger Stellungnahme tritt und diejenigen bei der Stange hält, denen man sonst nichts zu bieten hat. Einen Teil der Bevölkerung kann man immer von denen abspalten, die nichts gegen Ausländer haben – und natürlich von den Zuwanderern selbst. In schwarzgelben Kreisen hat daher längst die rechtsradikale Vokabel vom “Multikulti” Einzug gehalten. Die Kanzlerin selbst formuliert heute so: “Multikulti hat ausgedient“, “Dieser Ansatz ist gescheitert, absolut gescheitert“.

Was je damit gemeint worden sein könnte, verschweigen uns die totalen Gegner von “Multikulti”. Das einzige, was je freiwillig diesen Titel trug und zum Teil bis heute so genannt wird, sind die Stadtteilfeste, bei denen sich Kulturschaffende aus unterschiedlichen Ländern ein Stelldichein geben. Dort treffen sich meist viele Ausländer und eher linke Eingeborene. Der blanke Horror für die Ethnozentriker und Leitkulturhammel von rechts bis ganz rechts.

Ausgerechnet diese Multikulti-Veranstaltungen waren übrigens – viel zu seltene – Gelegenheiten, bei denen sich Urdeutsche und Einwanderer begegnen und annähern konnten. Gescheitert ist da gar nichts. Gescheitert ist vielmehr die Ignoranz derer, die mit den ‘Anderen’ nichts zu tun haben wollten, die das ‘Andere’ gern aus der Welt geschaffen hätten. Gescheitert ist überdies die zynische Behandlung von “Gastarbeitern”, die man nutzen und dann eigentlich wieder hinauswerfen wollte.

Gescheitert

Man hat sie zu lange gebraucht, zugelassen, daß sie hier seßhaft wurden, obwohl sie auf widrige Bedingungen trafen. Niemand wollte sie als Freunde und Nachbarn, als Schüler und Vereinsmitglieder oder Parteigenossen. Also integrierten sie sich in ein Land, ohne sich in die Gesellschaft zu integrieren. Sie haben ganz folgerichtig eigene gegründet.
“Sie”, das snd natürlich vor allem die türkischen Einwanderer, ihre Kinder und Enkel. Über Jahrzehnte hat sich kaum jemand Gedanken darüber gemacht, wie diese Bevölkerunggruppe zu Bildung und Wohlstand käme – außer denen, deren “Multikulti”-Einstellung angeblich gescheitert ist.

Die grandiose Neuerung in der neoliberalen Einwanderungspolitik soll jetzt also das Prinzip “Zuwanderung nach Nutzen” sein, wie sie querbeet vertreten wird, von BA-Chef Weise über Seehofer bis hin zu Kanzlerin Merkel und FDP-Chef Westerwelle. Der fühlt sich dabei noch bemüßigt, die rassistische Hetze eines Thilo Sarrazin gutzuheißen.

Daß Deutschland vor allem ein Auswanderungsland ist, nehmen diese Großstrategen dabei zwar offiziell zur Kenntnis, viel mehr als neuerliche Zuzugsbeschränkungen oder ein bißchen Lockerung derselben fällt ihnen dazu aber nicht ein. Es ist ja auch vertrackt: Man möchte gern bestens ausgebildete Leute, weil man es hierzulande nicht fertigbringt, eine brauchbare Ausbildung zu organisieren. Gleichzeitig aber will man nach Herzenslust auf dem unintegrierten Ausländerpack herumhacken. Dabei will so recht keine Stimmung aufkommen, die Deutschland für Zuwanderung attraktiv macht. Das eine oder andere Pogrom wird sich daraus vielleicht wieder ergeben, sicher aber keine Willkommensgeschenke an Fremde.

Eingliederung in die Wertschöpfungskette

Der widerwärtige Mix aus Diskriminierung, Herabwürdigung und Zurichtung der Masse auf Diener einer besserverdienenden Herrenriege feiert fröhliche Urständ, im Gefolge rechter Demagogen und unter der schon rituellen Beschwörung wirtschaftlicher Notwendigkeiten. Letztere werden dann noch als Toleranz verkauft, man behandelt schließlich alle diejenigen gleich, die für ‘Aufschwung’ und ‘Wohlstand’ zu sorgen haben. Für wessen unverschämten Wohlstand, das wird selbstverständlich nicht diskutiert. Der Markt, die uns alle nährende Mutter, bedarf nützlicher Arbeiter. Wer sich als solcher betätigt, darf hier auch essen. Er ist, wie Westerwelle in bräunlich welken Worten kundtut, “eingeladen”.

Die Kategorien sprechen für sich. Es gibt Nützliche und Unnützige, Eingeladene und Ungeladene. Die Einladung gilt für die Dauer der Nützlichkeit. Die Unwillkommenen werden unterteilt in solche, die man wieder loswird und solche, die man dulden muß, weil sie ganz ungeladen dennoch geboren wurden. Diese Ausgehaltenen gelten zwar längst als unwert und haben das Brot nicht verdient, von dem sie sich ernähren, immerhin stehen sie aber noch über denen, die sich der Einladung als nicht würdig erweisen.

Mit “Integration” oder irgend einem Problem, das der Verstand noch erfassen könnte, hat das nichts zu tun. Es geht nicht um eine Vorstellung von Zivilgesellschaft oder das Verhältnis von Menschen zu Menschen – im Gegenteil. Die Würde des Menschen wird endgültig und vollends unantastbar, weil sie keine Rolle spielen darf im Theater der ökonomischen Interessen. Die Frage nach der Würde betroffener Menschen wird systematisch ausgeschlossen, die soziale Frage auf die Eingliederung in die Wertschöpfungskette beschränkt. Auffälligkeiten sind unerwünscht, wer auffällt, muß hart sanktioniert werden. Er hat sein Recht verwirkt, ein Teilnehmer der Marktgesellschaft zu sein. Genau darin nämlich besteht das “neue Soziale” der Marktwirtschaft. Ob der Mensch ein Mensch ist, fragen nur noch Gutmenschen. Die anderen wissen, daß wir uns das nicht leisten können.

Eine herzerfrischend provokative Analyse des großen Bankirrtums zu unseren Ungunsten liefert der Wiener Wirtschaftsprofessor Franz Hörmann. Ob die von ihm vorausgesagte Ereigniskarte wirklich innerhalb der nächsten drei Jahre am Monopoly-Tisch gezogen werden wird, da sind Zweifel angebracht. Dennoch ist es sehr erfreulich, einmal etwas ganz anderes zu lesen als den neurotischen Optimismus unserer “klügsten” Professoren.

Immer diese halben Sachen. “Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte” wird in Zukunft mit bis zu 3 bzw. 5 Jahren Haft geahndet, bislang mit höchstens 2 Jahren. Es ist also künftig möglich, Strafen auszusprechen, die nicht mehr zur Bewährung ausgesetzt werden können. Ist dies die Lehre aus Stuttgart 21, daß man brutale Angriffe von Cops über sich ergehen lassen muß, weil man sonst verschwindet?

Und wie wird das dann gestaffelt? Wer Kastanien wirft, fährt zwei Jahre ein, für Pflastersteine gibt es drei, und – der besonders schwere Fall – fünf Jahre gibt es für den, der ein Auge auf einen Polizisten wirft?

s21Mindestens zwei Drittel der Deutschen lehnen den Krieg in Afghanistan ab, und zwar seit Jahren. CDU, FDP, SPD und Grüne sind dafür. Die Mehrheit der Deutschen ist für eine Vermögenssteuer, für eine Erhöhung der Erbschaftssteuer, für eine Finanzmarktsteuer. CDU und FDP sind dagegen, SPD und Grüne eventuell zum Teil dafür – in der Opposition. In der Regierung aber haben sie den deutschen Finanzmarkt erst zu dem gemacht, was er heute ist.

In allen diesen Punkten vertritt allein die Linke die Position der Mehrheit. Sie steht im übrigen für einen schnellen Atomausstieg, für eine Besserstellung von Alleinerziehenden und Geringverdienern, eine verfassungsgemäße Regelung des ALG II, den flächendeckenden Mindestlohn und viele weitere absolut mehrheitsfähige Standpunkte, im Großen und Ganzen eine Politik, wie sie die SPD zu ihren erfolgreichsten Zeiten gemacht hat. Außerdem ist sie die Partei mit dem nachdrücklichsten Entwurf zur Korruptionsbekämpfung.

Mehr als mehrheitsfähig

sr21Dies verhalf ihr zwar bislang zu sehr achtbaren Wahlergebnissen. Sie bleibt aber weit hinter ihrem Potential zurück. Im Bund wird das häufig erklärt mit einer angeblich unrealistsichen Einstellung zur Außenpolitik. Selbst wer diese zweifelhafte Ansicht teilt, kann aber mit der Anwort nicht zufrieden sein. Es ist wohl auch recht offensichtlich, daß die Lage mit einem politisch-medialen Zeitgeist zusammenhängt, der sich erst ganz allmählich – wenn überhaupt – vom Neoliberalismus löst.

Dies allein ist aber noch immer keine hinreichende Erklärung für die Präsenz bzw. das Ignorieren linker Positionen in den Medien. In bezug auf Stuttgart21 etwa gewinnt man den Eindruck, Cem Özdemir hätte höchstpersönlich die Proteste initiiert, geplant und angeführt. Die Grünen seien überdies quasi identisch mit den Gegnern des Projekts. Auch Jens Berger stellt richtigerweise fest, daß die Linken “zwar zu den entschiedensten Gegnern von S21” gehören, aber “bislang noch keinen Profit aus dem gestiegenen Interesse für den S21-Widerstand ziehen” können. Dann folgt auch er allerdings wieder der Demarkationslinie Özdemir./.Mappus.

sg21Das muß sehr viel deutlicher gemacht werden. Zum einen sind die Erklärungen der Linken zu Stuttgart21 weder wirr noch zerstritten, sondern fundiert, klar und authentisch. Zum anderen sind der Unmut über die Selbstbedienungsmentalität der Eliten und das Aufbegehren gegen die Arroganz der Kartelle originär linke Domänen. Dennoch stehen sie im Schatten derer, denen man inzwischen vieles zutrauen darf, nur keine Grundsatztreue. Dies gilt zuallererst für die Grünen. Von denen möchte ich gern wissen, ob sie in Baden-Württemberg wieder bis zum Fremdschämen “Unrechtsstaat” mit der Linken spielen wollen oder sich wenigstens dieses eine Mal mit denen verbünden, deren Politik sie derzeit verkünden.

Verändern geht anders

Die Linke muß sich sehr ernste Gedanken machen, wie sie das in der Öffentlichkeit deutlich macht, wofür sie ganz unzweifelhaft steht. Bei allem Charme der Basisdemokratie muß sie hier erwachsen, d.h. professionell werden.

Noch etwas völlig anderes wird deutlich angesichts der ungerechten Verteilung der Ernte von Stuttgart21: Der Protest hat nicht zuletzt deshalb soviel Zulauf, weil die Menschen dort eine anstehende Veränderung ablehnen. Sie kämpfen dafür, daß die alte Fassade erhalten bleibt. Jetzt kommt es darauf an, diesen Leuten klar zu machen, daß dazu gewaltige Umwälzungen notwendig sind. Man kann nicht den Bahnhof behalten und den Rest der Gemütlichkeit auch. Es muß sich etwas ändern. Und das geht nur mit denen, die wirklich etwas anderes wollen.

jagodaDie Millionen Arbeitsloser werden in Deutschland traditionell von einem Personal verwaltet, das nichts Gutes ahnen läßt. So kam es dann ja auch in den letzten Jahrzehnten: Vermittlung war rar, als Ausgleich wurde Schlampagner zum Zahlensalat gereicht. Der letzte Chef des Arbeitsamtes, Bernhard Jagoda, mußte seinen Hut nehmen nach einem Skandal, der seinesgleichen sucht. Ob bis 2002 Vermittlung überhaupt stattfand, war nicht mehr nachvollziehbar, weil die ‘Erfolgsbilanzen’ der Arbeitsämter nach Strich und Faden gefälscht worden waren.

Dem Fälscher auf der Spur

In der Folge mußte Jagoda seinen Hut nehmen. Dem braven CDU-Mann und Vertriebenenfunktionär folgte einer jener “Sozialdemokraten”, die ein amerikanisches Verständnis von “Eigenverantwortung” mit der Muttermilch aufgesogen haben: Florian Gerster. Gerster, engagiertes Mitglied der INSM, fand im Gefolge von Schröder und Clement genau darin auch gleich die Lösung des Problems: Wen die inzwischen “Agentur” genannte Behörde nicht vermittelt bekommt, der ist selber schuld. Man läßt die Leute Bewerbungen schreiben, bis die Schwarte knackt, und wer nicht mitmacht, kriegt kein Geld mehr.

Die Statistik lag auch ihm dabei sehr am Herzen. Der Umbau der “Agentur” nach den Hartz-Gesetzen brachte vor allem ‘saubere’ Zahlen hervor – die freilich nach wie vor frisiert waren, weil nun alle möglichen Kandidaten herausgerechnet wurden. Die sinnlosesten Weiterbildungen sprossen aus dem Boden, millionenfach absolvierte Bewerbungstrainings, hunderttausende Schweißerscheine, nichts war zu teuer oder überflüssig, um Leute zusammen zu treiben, die für eine Zeit “dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung” standen. Gleichzeitig wurde durch den radikalen Ausbau von Leih-und Zeitarbeit ein ‘Jobwunder’ auf Kosten der Arbeitnehmer und Beitragszahler geschaffen. Die neue Struktur subventioniert unter dem Begriff “Aufstocker” Sklavenlöhne.

Der Feudalherr

gersterDiese Arbeitsverhältnisse und die totale Entrechtung der Arbeitslosen waren Gerster eine echte Herzensangelenheit. Nach seinem Ausscheiden aus dem Amt verdingte er sich als “Präsident des Verbandes privater Postzusteller”, der seine Sklaven zwang, eine “Gewerkschaft” zu gründen, um Niedriglöhne durchsetzen zu können.

Ansonsten gefiel Gerster sich in der Rolle des Großmoralisten, dies freilich, nachdem er die Chefetage der “Agentur” zum Selbstbedienungsladen umfunktioniert hatte und daraufhin gegangen worden war.

Ihm folgte die aktuelle Besetzung, Frank-Jürgen Weise. Was ihn qualifiziert: Er ist ein Kumpel von Gerster aus Studienzeiten, CDU-Mitglied und im Kuratorium der evangelikalen Veranstaltung “ProChrist”, jener schrägen Clique, der u.a. auch Erwin Teufel, Christine Lieberknecht, Günther Beckstein und der Herr Bundespräsident angehören. Außerdem ist Weise ehemaliger Berufssoldat und Frühaufsteher. Er weiß: “Prekäre Arbeit ist besser als keine Arbeit”.

Sein Stil ist anders als der seines Vorgängers, das Resultat freilich dasselbe. Weise laviert und sitzt aus. So spricht er sich etwa gegen den Wildwuchs befristeter Stellen aus, im eigenen Haus aber findet er die ganz prima. Daß die Statistiken nach wie vor wichtiger sind als das Wohl und Wehe der “Kunden”, dokumentierten BA-Mitarbeiter derweil öffentlich. Weil das alles aber nach seinem Geschmack bestens läuft, reformiert er im Nebenjob die Bundeswehr.

Graf Zahl

weiseIch möchte nur ein Beispiel aus dem SZ-Interview herausgreifen, um seine ‘Philosophie’ zu illustrieren:
Zur Lage alleinerziehender Mütter kann man vieles sagen, vielleicht ja darüber streiten, ob das nicht bereits ein Job ist, der entlohnt gehört. Weise sagt dazu, da sei bei den “Vermittlungsquoten noch ein Plus von zehn oder 20 Prozent drin.” Das ist alles, was ihm zu deren Situation einfällt.
Er hat überhaupt nie wirklich eine Meinung, es sei denn in Zahlen. “Die Politik entscheidet” ist sein Motto, er setzt dann um. Was das für die Betroffenen bedeutet, das geht ihn nichts an. Die Zahlen müssen stimmen.

Wenn sich Weise nun dazu aufschwingt, eine beinahe politische Äußerung zu tun, ist es völlig verfehlt, dies als Meinung zu werten. Schon gar nicht wäre ihm daran gelegen, Horst Seehofer zu widersprechen. Wenn der stramme Bürosoldat feststellt, wir bräuchten eine “gesteuerte Zuwanderung“, dann sorgt er sich um sein Menschenmaterial, das in adäquater Menge vorhanden sein muß:
Heute haben wir 44 Millionen Erwerbsfähige, ohne Zuwanderung werden es 2050 etwa 26 Millionen sein. Deshalb brauchen wir auch eine gesteuerte Zuwanderung“. Da spricht die Zahl für sich, auch wenn es Unfug ist, eine Prognose über 40 Jahre zu machen.

Ein “Punktesystem” kann er sich vorstellen, die große Nummer darf rein, die kleine eben nicht. Es soll sich alles fügen ins Gute der richtigen Zahl. Das ist keine “dumme Quälerei ohne Sinn und Verstand“, sondern Sachzwang und blanke Rationalität, Zuwanderung nach Gebrauchswert eben. Den hat Frank-Jürgen Weise nämlich stets im Blick. Und wenn man sich umschaut unter denen, die bislang ins Amt des BA-Chefs zugewandert sind, kommt man sogar zu dem Schluß: Einen besseren hatten wir seit Jahren nicht, mehr ist nicht drin.
Der Rest, liebe Kunden, ist Eigenverantwortung.

Obwohl die verfassten Staaten sich gern eine ganze Reihe von Geheimdiensten leisten, tun sie sich recht schwer damit darzulegen, wo der Sinn der Dienste im besonderen und der Geheimnisse im allgemeinen liegt. Was diese Dienste genau tun, soll den parlamentarischen Kontrollbehörden bekannt sein, sonst geht das niemanden etwas an. Diese Art der Geheimhaltung ist freilich nur die Spitze der Intransparenz der sogenannten “Republik”. Diese entzieht sich auch darüber hinaus nur allzu gern der Kontrolle durch die “Öffentlichkeit”, die sie doch in Namen trägt.

Geheimhaltung ist in einem demokratischen Rechtststaat eine äußerst heikle Sache. Nimmt man diese beiden hohen Ansprüche – Rechtsstaat und Demokratie – nämlich ernst, so ist es nur zu ersichtlich, daß die Bürger wissen müssen, was in ihrem Namen geschieht. Wie im Rahmen der Betrachtung der DDR noch Common Sense ist, weist das Maß geheimer staatlicher Tätigkeiten auf das Maß der Rechtstaatlichkeit hin. Das gilt ganz grundsätzlich.

Was wir wissen müssen

Und zwar gilt dies so grundsätzlich, daß die Umkehrung des Prinzips “Geheimhaltung” wiederum ein Indikator für Demokratie und Rechtststaatlichkeit ist. Das führt einen radikalen Demokraten zu der Frage, warum es eigentlich keinen Transparenzdienst gibt, der dafür sorgt, daß die Grundlagen staatlicher und behördlicher Entscheidungen offengelegt werden? Was also Ämter und vor allem Politiker tun und lassen, wenn sie zu einer Entscheidung gelangen, erfordert demnach eine Erklärung zu den Hintergründen und Grundlagen. Mit wem wurde gesprochen? Wer hat an der Entscheidungsfindung mitgewirkt? Zu welchem Ergebnis ist man aufgrund welcher Abwägung gekommen? Das Ganze möglichst in Echtzeit.

Nun erscheint eine solche Forderung zunächst doppelt naiv. Einerseits gehören ja gerade rituelle Begründungen und schablonenhafte Argumente zu den Begleiterscheinungen politischer Prozesse. Andererseits gehen Lobbyisten bekanntermaßen ein und aus bei den Entscheidungsträgern und lassen gleich Redemanuskripte oder Gesetzestexte da, damit es die Abgeordneten nicht so schwer haben.

Ein Problem besteht aber darin, daß diese zum Teil unmittelbaren Zusammenhänge und Einflussnahmen dann eben doch geleugnet werden. Was nützt es da, wenn Lobbycontrol oder Abgeordnetenwatch irgendwo eine Halde des Halbwissens unterhalten, auf der die Erkenntnisse über die Macht hinter der Macht endgelagert werden? Es bedarf einer echten Öffentlichkeit für solche Vorgänge, um Korruption und antidemokratische Absprachen einzudämmen.

Geheimhaltung und Korruption

Derzeit häufen sich die Fälle zu offensichtlicher Klientelpolitik, es herrscht ein unmittelbar durchgereichter Lobbyismus, der Minister und Regierungsfraktionen zu Sprechpuppen der Interessengruppen macht. Hoteliers, Stromkonzerne, Pharmaindustrie, Apotheker, Tunnelbauer und Bauwirtschaft werden sklavisch bedient, während der zahlende Bürger halt den Gürtel enger schnallen muss. Es macht sich kaum mehr jemand die Mühe, das noch überzeugend zu verkaufen. Ein paar dumme Phrasen, die auf “alternativlos” enden, sollen dem Volk genügen.

Tatsächlich geht es um Korruption. Denn während es offenbar angezeigt ist, Bürger als Gefahr für den Staat zu betrachten und sich dagegen zu wappnen, haben die Bürger nur äußerst bescheidene Möglichkeiten, der Gefahr zu begegnen, die ihnen von Seiten eines korrupten Staates drohen. Ein “Gesetz zur Korruptionsbekämpfung” kennt etwa das Land NRW, darin geht es aber nur um öffentliche Aufträge und solche Verfehlungen, die im Rahmen eindeutiger gesetzlicher Vorschriften begangen werden. Zuständig ist dementsprechend der Rechnungshof, der auch nur prüft, ob ganz offensichtlich Geld verschwendet wird.

Ansonsten gibt es in Deutschland keine Korruption. Nicht nur, daß sich die gesetzliche Handhabe auf die Bestechung von Amtsträgern beschränkt – diese muß so eindeutig sein, daß es in den allermeisten Fällen nicht möglich ist, sie nachzuweisen.
Es kann auch im Endeffekt nicht nur darum gehen, strafwürdige Korruption zu verfolgen, sondern es muss einer Demokratie daran gelegen sein, schon korrumpierende Einflüsse deutlich öffentlich zu machen. Dies gilt umso mehr, je weniger unabhängig eine Presse ist, die sich inzwischen selbst den Interessen ihrer Geldgeber zu beugen hat – wobei wir hier nicht von den Lesern sprechen.

Den Einfluss öffentlich machen

Das Kartell, das “Stuttgart 21″ beschlossen hat und es jetzt mit aller Macht durchpeitscht, eine Mischpoke aus ehemaligen “Volksparteien” und sämtlichen Profiteuren, die daran verdienen können, steht inzwischen überrascht und majestätisch beleidigt einem Volk gegenüber, das einfach nicht taub und blind genug ist, um freiwillig Miliarden in ein Loch zu schmeißen, in dem die Ratten sich schon tummeln. Vielleicht läßt man deshalb ja die Wasserwerfer auf Augenhöhe sprechen.

Wie aber läßt sich eine Mafia aufhalten, die so breit aufgestellt ist?
Ein echtes Transparenzgebot und eine echte parlamentarische Kontrolle – sei es auch nur in Form der Dokumentation von Einflussnahmen auf politische Entscheidungen, die Pflicht für Politiker, all das öffentlich zu äußern, was sie bislang und zunehmend in Hinterzimmern ausbaldowern, wäre das nicht eine wunderbare Ergänzung der demokratischen Instanzen?
Man kann natürlich auch darauf hoffen, daß unabhängige Journalisten diese Aufgabe wieder übernehmen. Von denen aber wissen wir ja, daß wir nicht alles wissen müssen.

Einer der unfähigsten deutschen ‘Journalisten’, die neoliberale Gebetsmühle Marc Beise, weist heute den Bundeswirtschaftsminister zurecht, der solle gefälligst auch weiterhin das Mantra aufsagen – und sonst nichts. Ich verstehe ja auch nicht, was den Brüderle reitet, aber wenn der schon mal etwas halbwegs Logisches sagt, muss dann gleich dieser Wadelnbeißer daherkommen und lautstark das gewohnte Maß an Blödheit einfordern? Wenn man keine Ahnung hat …

Was Hans Peter Schütz da schon wieder schreibt, gehört sich nicht für einen deutschen Journalisten. Wenn dieser Nestbeschmutzer so weitermacht, werde ich ihn adoptieren.

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