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August 2009


Das könnte das Prinzip “SPD” bedeuten. Ein Funktionär denkt sich vor einer Wahl etwas aus, das absehbar nicht durchsetzbar ist und verkündet dies als offiziellen “Kurs”. Dann finden Wahlen statt, deren Ausgang aber irrelevant ist, da ja schon vorher alle Optionen festgelegt sind. Nach der Wahl heißt es dann, man müsse zu seinem “Wort” stehen.

Nachdem die “SPD” sich mit der Agenda 2010 von ihren sozialen Wurzeln getrennt hat, trennt sie sich nunmehr auch von ihren demokratischen Anteilen. Wo die Wähler ihre Kreuzchen machen und was dabei herumkommt, ist ihren Apparatschiks völlig schnuppe. Das war bei Ypsilanti schon so, die sich von den Seeheimern einen Kurs aufdrängen ließ, bei deren Verlassen die versammelte Gemeinde der Medienhaie sie zerfleischte – im Schulterschluß mit den rechten “Freunden” aus ihrer Partei.

Perfektioniert wird das Spiel jetzt von Christoph Matschie in Thüringen. Der hat schon vor der Wahl wissen können, daß er keine 20% holt, damit auf Platz drei landet und auf eine stärkeren Koalitionspartner angewiesen sein würde. Dennoch kündigte er an, keinen “Linken” zum Ministerpräsidenten zu wählen. Hätte sein “Wort” irgendeine Bedeutung, hätte er also auch sagen können: Ich wähle Althaus.

Aber nein, wir haben die Wahl zwischen Hanswurst und Psychopath, zwischen neoliberalem Zerstörer und CDU-Anhängsel oder größenwahnsinngem Spinner. Im Ernst glaubt der Mann, die Linke müsse ihn jetzt wählen. Nimmt man das ernst, könnten die Grünen im Saarland ähnliches fordern. Gemäß dem Motto: “Die anderen haben zwar x mal so viele Stimmen und Sitze, aber wir sind die Schönsten”.

Dieses Syndrom ist bestimmt durch ein zutiefst destruktives Konzept der Rechten in der “SPD” und dem Glauben, man könne die “Linken” beliebig als das Böse schlechthin oder Nützliche Idioten benutzen. Für diese Sorte Politiker ist die “Linke” eine Partei zweiter Klasse, deren Mitglieder für jeden Krümel dankbar sein dürfen, die ihnen eine echte, weil neoliberale Partei hinwirft. Aus den wichtigen Ressorts und dem Bundestag haben sich die Schmuddelkinder herauszuhalten. Und ansonsten dem Herrn zu dienen, der sie ruft.

Tun sie das nicht, reagieren die früher sogenannten “roten” aus der “SPD” mit strafender Ächtung. Dabei spielt es wie gesagt keine Rolle, was die Wähler wollen, was die Parteimitglieder wollen und was das eigene Programm sagt. Es geht um den puren Erhalt der Macht jener, die als ihrer würdig gelten. Inhaltlich unsozial, in der Praxis undemokratisch und politisch gegen die selbst formulierten Ziele, bleibt von der SPD nicht einmal mehr ein Buchstabe übrig. Sie ist nicht sozial, nicht demokratisch und keine Partei mehr.

Dann sollen sie doch Althaus wählen, Matschie und seine Matschbirnen. Er will verbrannte Erde. Die SPD soll, geht es nach ihm und seinesgleichen, nie wieder in den Ruch kommen, eine “linke” Partei zu sein. Dann schon lieber Mehrheitsbeschaffer einer Politik, die den Buchstaben des Programms zuwiderläuft. Dieses darf in jedem Paragraphen verleugnet werden, jeder Satz daraus darf gestrichen und durch sein Gegenteil ersetzt werden. Denn das ist es, was Matschie und seine Spießgesellen unter “Wort halten” verstehen.
“Maul halten” wäre eine formidable Alternative.

Was wir erleben werden, wenn dieser Amoklauf Erfolg hat, hat Bodo Ramelow bereits auf den Punkt gebracht:

Ich bleibe dann als Oppositionsführer im Landtag und werde mit großem Vergnügen täglich den Sittenwächter spielen und aus der ersten Reihe Anträge einbringen, die die SPD vor der Wahl den Bürgern versprochen hat. Dann muss sich Herr Matschie daran messen lassen, ob er die Versprechen einhält oder nicht.”

Es war Oberst von Gatow im Klavierzimmer mit dem Armleuchter.

In einem ungemein lobenswerten Artikel bei SpOn – es fällt nicht ein einziges Mal das Wort “Populist” – wird unterstellt, Lafontaine sei nicht nur die größte Stärke der “Linken”, sondern auch deren größte Schwäche. Dies, weil mit ihm eine Zusammenarbeit mit der SPD auf Bundesebene nicht möglich wäre. Ein vernünftiges Argument, allerdings wäre mehr Weitsicht spannender.

Während nämlich Lafontaine gefragt wird, ob er sich mit 65 noch fit genug fühle, ist der SPD-Chef schon fast siebzig. Hinzu kommt, daß der aktuelle K-Kandidat die Partei in ein Desaster führen wird. Auf Landesebene gibt es zwar eine Menge Intriganten, aber kaum relevante Führungspersönlichkeiten. Und die es gibt, sind der Linken ggf. gar nicht so spinnefeind. Das gilt für die meisten im Osten und einige im Westen. Wer auf die Zukunft wettet, ist sogar bei Ypsilanti noch besser aufgehoben als bei Steinmeier.

Die Ministerriege kann man getrost ebenfalls einmotten. Steinbrück hat noch nie eine Wahl gewonnen und ist ohne jemanden, der ihn nach oben ruft, eine Nullnummer. Leute wie Tiefensee, Schmidt und Zypries haben nichts zu sagen, Wieczorek-Zeul kann auch weiter links und Gabriel wird die Zeichen der Zeit erkennen, wenn der Wind sich dreht. Ebenso wendig ist Andrea Nahles als Parteiauskennerin und Gelegenheits-Linke.

Die Agenda 2010 wurde zwar mit Zähnen und Klauen gegen jede Vernunft und jedes soziale Gewissen verteidigt, aber als Mutter aller Niederlagen hat sie sich definitiv erledigt. Die Front ist äußerst brüchig. Mit ein wenig Phantasie könnte man sich Lafontaine gar als SPD-Chef vorstellen. Ein großer Teil Partei würde weinen vor Glück über die Rückkehr des verlorenen Sohnes. Diese völlig unrealistische Vorstellung kann den Horizont erweitern. Es werden andere Personen sein, es wird eine andere Politik sein. So zerschossen wie das Schiff vor sich hin gurgelt, weiß niemand, wie es weitergehen wird.

Es macht daher keinen Sinn, auf personelle Konstellationen zu schielen, die scheinbar die Realität bestimmen. Die einzig relevante Frage ist die, ob die SPD weiter in einer Großen Koalition zu Tode regiert wird oder sich in der Opposition verändern darf. Lafontaine und Müntefering sind dabei völlig irrelevant.

Trotz der allgemeinen Miesmacherei in Blogs und Linksmedien ist die Demokratie intakt. Diese Woche klären uns der Objektivtät verpflichtete professionelle Journalisten auf:

Beck mußte weg. Ypsilanti und Beck planten die Linksrepublik. Die SPD stand bei katastrophalen 26%.
Steinmeier kam, um die SPD wieder ins rechte Licht zu rücken.
Heute steht die SPD bei guten 23%. Merkel macht jetzt doch ein wenig Wahlkampf und stellt in Einklang mit der Sueddeutschen fest, daß die SPD Linksbündnisse suche. Steinmeier ist zwar auf dem richtigen Weg, Die SPD braucht aber einen, der nicht im Verdacht steht, einen Linksrutsch zuzulassen. Dann hätte sie noch mehr Erfolg.

Die Skandalisierung des Umstands, daß der Chef einer großen Privatbank in den Räumen der Regierungschefin seinen Geburtstag feiert, wird von der bürgerlichen Presse eingedämmt. Was der Boulevard dazu schreibt, darf hier nicht erwähnt werden, weil der Blogbetreiber es für seine Mission hält, diesen nicht zu zitieren. Andere Hetzblogger haben weniger Skrupel.

Aber auch die Rheinische Post steht unserer Kanzlerin bei. Die Interviewer fragen gleich eingangs, ob sie ihren Kaffee selbst bezahlen müßten. Das wäre nämlich dasselbe. Echter Journalismus zeichnet sich eben durch Respekt aus.
Merksatz der Woche:
Die private Nutzung eines Dienstwagens durch eine Ministerin ist ein Skandal. Die öffentliche Nutzung einer Kanzerlin durch einen privaten Bankier ist völlig normal.

Der Blogbetreiber wirft ein, dies drohe ein grottenschlechter Artikel zu werden. Der Stil genüge nicht seinen Ansprüchen, die Ironie sei hölzern, der Inhalt mau. Er wolle ihn so nicht veröffentlichen.

Das Problem der Blogger und der Linkspresse ist immer wieder ihr Hang zur Fundamentalkritik ohne jede Perspektive. Sie können uns kein positives Weltbild vermitteln und spielen sich dennoch als die besseren Demokraten auf. Sie weigern sich zu akzeptieren, daß es einer Führung bedarf, die auf unsere Unterstützung zählen kann. Sie geben vor, Gutes zu wollen und befördern doch nur die Anarchie.

“Kommunismus”, wirft der Blogbetreiber ein, “wir wollen Kommunismus, Mauer, Stacheldraht, Stalinorgeln und Stromgitarren!” Er trinkt schon wieder Bier.

Was soll man dazu sagen? Es richtet sich doch selbt. Immerhin gibt uns das die Gelegenheit, an dieser Stelle einmal aufs Deutlichste die hiesigen Verhältnisse zu beleuchten. Es fällt ihm kein Argument ein, keine konstruktive Mitarbeit, nicht einmal eine seiner ach so geschliffenen Formulierungen, mit denen er sonst seine Leser in seine finstere Ideolgie verstrickt.

Er spuckt. Ich kann nicht erkennen, ob er lacht oder weint, aber er scheint einen hysterischen Anfall zu haben. “Ideologie!”, skandiert er, “ist klar, ich und Ideologie! Ich bin der KGB-Chef!” Gerade vollführt er einen Veitstanz, eine Art Stechschritt. “Wir sind die Moorsoldaten! Ich bin ein Bügeleisen, und ich lüge nicht.”

Diese Szene muß der Nachwelt überliefert werden. Die Leser dieses infamen Webauftritts müssen erfahren, wes zerstörten Hirnes Auswürfe sie hier täglich zu lesen bekommen. Der “Publizieren”-Button liegt nur einen winzigen, wenn auch womöglich lebensgefährlichen Mausklick entfernt.

Er deliriert. Öffnet das nächste Bier. “Ein Pils und eine Kippe, vom Kindergeld abgespart”, geifert er. “Ich habe den Sieg über mich selbst errungen. Ich liebe Josef Ackermann!”

Er umarmt mich, küßt mich. Ich kann mich kaum bewegen. Vielleicht die letzte Gelegenheit. Ich werde jetzt die Maustaste drücken.

Die SPD ist am Boden. Jeder weiß das, nur ihre Führung nicht. Ob sie noch einmal die Chance haben wird, sich zu erneuern, hängt vor allem davon ab, wie lange ihre neoliberalen Plünderer noch etwas zu sagen haben. Als “Volkspartei” ist sie auf absehbare Zeit erledigt.
Die CDU hat ein anderes Problem, wenngleich kein geringeres. Ihre “Politik” gefällt den großen Medienhäusern und den Wirtschaftsbossen. Nach der Agenda 2010 ist Nichtstun das beste, das den Neoliberalen passieren kann. Selbst nach ihrem Jahrhundertversagen wird der alte Kurs gehalten.

Gewinnen kann man freilich niemanden mit einer solchen Politik. Schon nicht, weil sie falsch ist und ins Elend führt, aber auch deshalb nicht, weil sie gegen die große Mehrheit gerichtet ist. Schließlich, das folgt daraus und aus der Tatsache, daß Politik nach diesem Verständnis gar nicht mehr stattfindet, gibt es keine Möglichkeit, irgendwen dafür zu begeistern.
Das “Weiter so” aber zieht nur wenige verwöhnte junge Leute an, die ihrerseits eher gelernt haben, Ansprüche zu stellen, als welche zu erfüllen. Schon lange ist die Basis der Unions-Wählerschaft daher der älteste Teil der Bevölkerung. Ergo sterben der Union die Wähler bald sprichwörtlich weg.

Die Tendenz ist schon sichtbar, nicht nur als Folge der Großen Koalition. Noch verteilen sich die meisten Stimmen auf Parteien, die bereits dem Bundestag angehören. Trotz aller heftigen Kampagnen ist die “Linke” deutlich gestärkt. Grüne und FDP fahren zumindest bei den Prognosen Traumwerte ein.
Bricht die Union erst einmal deutlich ein, ergibt sich eine Menge Raum für weitere Parteien. Ein zu großer Erfolg könnte der FDP gar eine Spaltung bescheren. Sie hat schon heute kein brauchbares Programm mehr, alles, was sie verspricht, ist bereits grandios gescheitert. Das Personal verbreitet so viel Begeisterung wie kalter Kaffee. Was bleibt, wenn der Neoliberalismus endgültig abgewickelt werden muß?

Eine rechtsliberale Partei mit starken nationalistischen Tendenzen hätte sicher auch in Deutschland gute Chancen. Ob sich eher linksliberale zwischen den Grünen und der real existierenden SPD auch noch etablieren könnten, wage ich zu bezweifeln.
Selbst der CDU könnte eine Spaltung drohen in CDU und Bundes-CSU.
Eine Gegentendenz würde ggf. eine sich natürlich ergebende Annäherung von SPD und Linken bedeuten. Sogar eine Fusion wäre denkbar, in ihrer Folge hätte wiederum eine wirklich linksradikale Partei die Chance, ins Parlament einzuziehen.

Wie dem auch sei, es wird mehr und kleinere Parteien geben, immer wieder auch Bürgerbewegungen wie die Piratenpartei oder ähnliche. Es wird bunter, komplizierter und demokratischer.
In den Parlamenten jedenfalls. Wie sich derweil die Wirtschaft und vor allem die Medien entwickeln, ist ein weiterer wichtiger Faktor. Marschiert die Meinungsmache weiter in die Richtung wie bisher, drohen Italienische Verhältnisse. Eine Veränderung der bislang sehr übersichtlichen Strukturen kann aber auch dazu führen, daß die Einheitspresse bröckelt und sich wieder kritischer Journalismus etabliert.

Dessen Rolle ist ohnehin entscheidend. Die Kampagnen der letzten Wahlkämpfe (siehe Hessen) und das unerträgliche Schweigen zum unerträglichen Schweigen der Kanzlerin geben wenig Anlaß zur Hoffnung. Mancher hegt sie trotzdem, ein anderer verweist auf die Symptome des Niedergangs.

Ein tiefer Blick in die Kristallkugel, warum? Weil die Hoffnung heute darin liegt, daß der Ausgang der vor uns liegenden “Wahl” irrelevant ist.

Ich nutze das Sommerloch für eine allgemeine Durchsage:
Zwar werde ich auch weiterhin nicht mit Abmahnungen drohen oder die Lizenzbedingungen ändern, aber es gefällt mir nicht, wenn, zumal ungefragt, ganze Artikel von mir übernommen werden. Dann lese ich woanders “posted by xy” über meinem Text, was ja nicht stimmt. Oder ich lese “posted by flatter”, was den Eindruck erweckt, ich schriebe auch für andere.
Ich finde, ein Auszug aus dem Text, gern auch ein längerer, tut es genauso, mit einem Link hierher. Wer das lesen will, ist nur einen Klick entfernt. Es macht ein Blog auch nicht wirklich attraktiv, wenn es sich aus AAL-Texten zusammensetzt.

Schönes Wort, äußerst zutreffend.

sotpgym

 
 

Merkel wird zum ersten Mal persönlich in den Wahlkampf hereingezogen.

Hihihi, Kanzleramt. Dolle Sache!

Wie immer gut gemeint und gnadenlos dabenen gemeiert doziert Jens Jessen heute den Kapitalismus in die Flucht. Die erste Hälfte seiner erkenntnisreichen Odyssee hart am Rande vorwissenschaftlicher Strände verbringt er damit, den Kapitalismus der Kritiker zu haluzinieren, um ihn sogleich als Spuk und Gespenst zu entlarven. Anstatt nun aber an seinem Vorgehen, seinem Wissen oder seiner kognitiven Potenz zu zweifeln, kommt er zu dem Schluß: Das gibt’s doch gar nicht.

Die Technik ist nicht neu, Broder macht das in allen seinen Artikeln so. Jessen ist dabei aber weder raffiniert noch bösartig, nur aus Unwissenheit und nur ein wenig borniert. Entweder hat er nichts von dem gelesen, was er da am Rande auffährt oder er hat es einfach nicht kapiert.
Ein paar Kostproben:

Jede Diktatur in der Dritten Welt, die Unterdrückung der Frau, der schlechte Sex, alles war vom Kapitalismus herbeigeführt.”

Ach ja, und ich dachte, Kuba gelte als Diktatur. Den Zusammenhang zwischen Sex und Kapitalismus habe ich so noch nicht entdecken können. Vielleicht eine Karikatur? Auf der wir dann feste rumhopsen? Wo ist der Sinn? Ich habe allerdings die Befürchtung, daß am Ende Marcuse gemeint ist. Sollten Sie mal lesen, Herr Jessen, Kant und Freud anbei, dann fällt vielleicht ein Groschen.

Alle offenen oder versteckten Mängel unserer Gesellschaft hatten mittelbar oder unmittelbar mit den Profitabsichten der Kapitaleigner zu tun; selbst scheiternde Liebesbeziehungen wurden dem warenförmigen Charakter zugeschrieben, den der Kapitalismus bis in die Psyche der Menschen trage.”

Ja, wenns ihm nicht gefällt, dann soll er’s doch kritisieren. Aber wenn jemand einen Schmarrn über mein Auto redet, folgt daraus dann, daß die Karre nicht existiert? Jessen bemüht sich weder um die Differenz zwischen dem Geschwafel betrunkener Hippies und philosophischen Schriften, noch entwickelt er ein auch nur schemenhaftes Verständnis von einem “System”.
Sehr gnädig lesend, könnte man also feststellen, er referiere eben über das allgemeine Gerede.
So einfach will er aber nicht verstanden werden, vielmehr erhebt er einen luftig hohen Anspruch:

Denn wunderbarerweise enthält die Wissenschaft gar keinen Hinweis darauf, dass es sich bei dem Kapitalismus wirklich um ein System handelt. Das System ist, wissenschaftlich gesehen, nur ein Denkmodell, das dazu dient, bestimmte Abhängigkeiten und Wechselwirkungen vor Augen zu führen. Und nicht einmal von dem Kapitalismus als Begriff kann man sagen, ob ihm ein Wesen in der Wirklichkeit entspricht.”

Kopfschmerzen!
Wer, was, wo ist in diesem Zusammenhang “die Wissenschaft”? Marx? Parsons? Luhmann? Oder doch eher Döpfner? Was Jessen da über “Das System” brabbelt, haut ihm jeder Student im Soziologie Grundstudium um die Ohren. Was er schließlich über den “Begriff” sagt, ist auf demselben Niveau. Ganz gleich ob man mit dem Dualismus Begriff/Bedeutung operiert, postmodern “dekonstruiert” oder auch mythologisch die Zeichen göttlicher Offenbarung in Ähnlichkeiten sucht – das entsprechende Wesen in “der Wirklichkeit” spielt da keine Rolle. Das Problem mag darin bestehen, daß alle diese Systeme keine Rücksicht auf Jessens Wirklichkeit nehmen. Und psst … erzählt ihm bloß nicht, daß Wirklichkeit womöglich bloß ein Konstrukt ist!

Am Ende muß auch noch Max Weber herhalten, um die Nichtexistenz des Kapitalismus zu bezeugen, obwohl jener diesen ausdrücklich religionssoziologisch rekonstruiert. Das wäre doch wenigstens etwas gewesen, die Gier der Manager mit der protestantischen Ethik zu erklären – oder das alles zu widerlegen. Aber es ist doch wesentlich schwieriger, eine Theorie zu verstehen als ihren Autor zu erwähnen.

Setzen, sechs! Ob es für Jessen den Kapitalismus gibt oder nicht und was daraus folgt, ist schlicht irrelevant. Immerhin hat er sich bemüht, die vermeintlich an ihn gestellten Anforderungen zu erfüllen. Er hat die Welt so erklärt, wie es der Herrschaft gefällt und dem Volke eingeht. Wäre die Erde eine Kugel, so lernen wir einmal mehr, fielen die Menschen hinunter.

Wenn Franz Beckenbauer den SV Vorderhoppenstett beehrt und dessen Präsident ein paar Runden im Clubkeller springen läßt, ist das dann “Veruntreuung von Mitgliedsbeiträgen”? Und wenn Herr Beckenbauer zufällig Geburtstag hat und ein paar seiner alten Freunde mitbringt, und wenn sie dann auf Kosten des Hauses ein paar Schnittchen schnappen, ist das dann “Verschwendung von Vereinsvermögen”?

ackermann

Wenn jemand zu Besuch kommt, für dessen Händedruck die meisten Menschen eine Menge Geld geben würden, wie kleinlich ist es dann, dem Besuch ein Minimum an Gastfreundschaft zu verwehren, weil die dazu verwendeten Mittel nicht ausdrücklich diesem Zweck gewidmet sind? Wenn obendrein der Besuch im Grunde der oberste Chef vom Ganzen ist, wie steht man dann da, wenn man ihn an der Tür abweist?

Josef Ackermann hat die unverzeihliche Sünde begangen, an seinem Geburtstag zu arbeiten. Angela Merkel war so tolldreist, ihm die Arbeit an seinem Ehrentage ein wenig angenehmer zu gestalten. Es wurde ein Schoppen genommen, es wurden Erdnüsse gereicht. Moralisten und Gutmenschen empören sich nun darüber, daß diese kleine Feier auf Staatskosten stattfand. Ausgerechnet diejenigen, die den Joe am liebsten dauerhaft in staatlicher Obhut bei freier Logis sähen, schreien jetzt am lautesten. Die Heuchelei ist unerträglich.

Die Kanzlerin weiß überdies genau, wer Ross ist und wer Reiter. Von Seiten der Nörgler heißt es: “Das gefährdet die Demokratie“. “Demokratie” aber ist ein weites Feld. Das neue Kanzleramt steht nicht in in einer muffigen Kleinstadt im Rheintal und ist kein abgehalfterter Bungalow. Es ist kein Ort für Kleingeister, die “Demokratie wagen” wollen und sich von Kommunisten aus dem Amt jagen lassen. Es ist ein großer Ort für große Geister. Wer täglich Beträge jenseits der Verstandesgrenze in seine Habenspalte leitet, hat jedenfalls keine Zeit für Pfennigfuchsereien.

Eine größere Ehre, als daß Josef Ackermann sich persönlich im Kanzleramt feiern läßt, kann dem deutschen Volke gar nicht angedeihen. Wo gehört denn einer hin, dessen Wort Gesetz ist, wenn nicht ins Kanzleramt? Wo gehört einer hin, der vermutlich mehr Gesetze hat entwerfen lassen als jeder Minister? Ist es nicht das Kanzleramt, an dem die Richtlinienkompetenz ihren Ort hat? Und ist es etwa Angela Merkel, die sie innehat?

Josef Ackermann ist der wichtigste, einfußreichtse, größte lebende Deutsche. Selbst das sprechen ihm die Neider und Erbsenzähler, die Haarspalter und Besserwisser noch ab. Er sei gar kein Deutscher, werden sie womöglich einwerfen in ihrer armseligen Borniertheit.
Ein wenig Demut sei ihnen angeraten und ein klein wenig Geschichtsbewußtsein. Denn was ein Künstler aus Österreich konnte, das kann ein Bankier aus der Schweiz allemal.

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