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Oktober 2006


Spiegel Online präsentiert die spannendsten U-Bahn-Übergriffe. Echt heiß, wie gefährlich die Jungs sind, die ihre Umwelt mit sinnlosen Gewaltattacken überziehen. Furchteinflößend, daß man nichts dagegen tun kann. Kein Thriller ist so so spanndend wie das Leben! Auf das Niveau dieses Reißers lassen sich sonst nur Boulevardblätter herab, und es ist offenbar für die SpOn-Redaktion kein journalistisches Problem, wenn Effekthascherei asoziales Verhalten fördert. Anstatt Zivilcourage in den Vordergrund zu stellen, wird erst einmal auf die Angsthupe gedrückt. Butterweich wird am Schluß des Artikels so getan, als sei man ausgewogen, indem man dort ein paar in der Tat sinnlose Sätze nachschiebt über Möglichkeiten, potentiellen Opfern zu helfen. Anstatt die Täter zu bestärken, indem man eine Kapitulationserklärung veröffentlicht, wäre es angesagt gewesen, ihnen entgegenzutreten. “Keine Angst!” ist die Devise. Es hilft nichts, sich unauffällig zu verhalten. Es ist nicht lebensgefährlich, einzugreifen. Gefährlich ist es, solchem Abschaum zufällig zu begegnen. Und es ist umso gefährlicher, je weniger Widerstand er fürchten muß. Von daher muß klar sein, daß man nicht vielleicht ein bißchen, wenn der Wind günstig steht, versucht, etwas zu tun, sondern daß jede Möglichkeit dazu wahzunehmen ist. Nicht allein und gegen eine Übermacht, aber wenigstens, wenn genug Volk anwesend ist, das sich sonst in Grund und Boden schämen müßte.

Nicholas Stern hat heute den nach ihm benannten “Stern Review” zur Klimaveränderung präsentiert und dabei aufgezeigt, daß die produktionsbedingten Umweltschäden schon in naher Zukunft gewaltige wirtschaftliche Probleme zeitigen werden. Sie werden umso drastischer ausfallen, je später und je halbherziger von Seiten der großen Industrienationen gegengesteuert wird.
Die von der britischen Regierung in Auftrag gegebene Studie zeigt deutlich auf, daß es nicht nur bedauerliche Kollateralschäden an der Überlebensgrundlage der Menschheit geben wird, sondern auch die Weltwirtschaft in Nöte bringt, was für den neoliberalen Mainstream in den Glas-und Marmorburgen allemal schockierender sein dürfte. Wie tief dieses Denken bereits greift, zeigt sich an Stern selbst und der Formulierung des Kernproblems: This is the greatest market failure the world has seen”. “Das größte Marktversagen, daß die Welt je gesehen hat” macht er aus und fällt aus allen Wolken. Erschreckt stell Stern fest, daß der Markt es nicht geschafft hat, dieses Problem zu verhindern. Man ahnt, daß es aus seiner Sicht nur der Markt sein kann, der die Sache wieder in den Griff bekommt. Es ist ja erfreulich, wenn die Apologeten des reinen Angebots inzwischen auch feststellen, daß etwas schiefläuft. Bis zu der Einsicht, daß “der Markt” der größte Teil des Problems ist und nicht die Lösung sein kann, ist es aber noch ein weiter Weg.

Interessante Hintergründe liefert die FR zum Thema “Islam und Menschenrechte”. Der Schluß, daß es keine divergierenden Variationen von Menschenrechten geben kann, sondern nur die universellen, ist zu unterstützen. Daß es vor dem Hintergrund einer Scharia nahezu unmöglich erscheint, den universellen Menschenrechten zu Rang und Geltung zu verhelfen, ist nachvollziehbar. Das macht die Sache aber noch nicht hoffnungslos. Zwar mag es Konferenzen gegeben haben, auf denen hohe islamische Würdenträger zu Übereinkünften gekommen sind, die auch schriftlich festgehalten wurden, aber das heißt nicht, daß solche Übereinkünfte quasi Vetragscharakter hätten. Im Gegenteil ist de facto eigentlich völlig ungeklärt, wer den Muslimen welche Heilsversprechen machen darf. Osama bin Laden etwa hat Wirtschaft und Bauingenieurswesen studiert und ist mitnichten ein hoher Geistlicher Würdenträger. Dennoch folgen ihm die Massen.
Die Interpretation des Koran ist ähnlich flexibel wie die der Bibel: Er ist Verkündung und dürfte von daher gar nicht Gegenstand öffentlicher Exegese sein. Nichtsdestotrotz muß der Text ausgelegt werden, um Wirkung zu zeitigen. Daran wiederum entbrennen die heftigsten innerreligiösen Konflikte, und es finden sich kaum zwei Schrtiftgelehrte, die einer Meinung sind.
In diesem Umstand besteht nicht nur ein großes Aufklärungspotential, es schwächt vor allem die Position der Fundamentalisten. Eine aufgeklärte Kultur, deren großartigste Leistung die Anerkennung der Universalität von Menschenrechten ist, hat hier eine sehr mächtige Stütze, die vor allem überzeugt, wo den Fanatikern nur die Gewalt bleibt.
Es ist daher der schlimmste Sündenfall, wenn westliche “Demokratien” die Menschenrechte relativieren. In diesem Sinne ist der erfolgreichste Antreiber des islamischen Fundamentalismus’ dieser Tage nicht Osama oder sonst ein Terrorscheich, sondern der Amerikanische Präsident.

Es gibt sie noch, und zwar in jeder Altersklasse. Ich habe sie schon zu Schulzeiten nicht verstanden, ihren Mangel am Ekel, an Persönlichkeit, an allem, das mir wichtig und sympathisch ist. Erwachsene Menschen sind nicht so, mag ich damals gedacht haben, aber das war natürlich meiner jugendlichen Naivität geschuldet. Nein, sie sind noch viel schlimmer, denn es gibt immer etwas zu gewinnen, jemanden zu beeindrucken, ein Licht, in dem diese Brut sich sonnen kann. Heute begegneten mir zwei dieser Exemplare, die mir gar nicht so sehr aufgefallen sind, weil sie sich jemandem angedient hätten, sondern weil sie schlicht durchgekauten Blödsinn wieder hochgewürgt und ihrem Auditorium präsentiert haben, als hätte man sonst nichts, dessentwegen man sich langweilen könnte. Eine Soziologin, die die “Multikulturelle Gesellschaft” zu bekriteln hatte – die “Grüne Partei”, die “Kirchen schrecklich” fände, aber “Moscheen eingeweiht” hätte. Oder die Tante in der Tagesschau, die mit der Miene professioneller Ausdruckslosigkeit von “skrupellosen Bildern” und “Entsetzen” sprach und der man ansah, daß sie nicht für zwei Pfennig an das glaubte, was sie da gerade verzapfte.
Das Schlimme ist gar nicht der Opportunismus, das in Maßen noch gesunde Bestreben, weiter zu kommen. Selbst an die Denkfaulheit dieser Menschen könnte man sich gewöhnen, Fleiß ist auf diesem Sektor ohnehin selten. Was mich aber nachgerade traurig stimmt, ist, daß es Menschen gibt, die niemals eine Meinung haben werden. Die nie sagen können “Das habe ich gemacht”, ohne daß ihr Lenorgewissen ihnen diese Lüge weichspülen muß. Die nicht einen einzigen Gedanken aufrechterhalten, von dem sie nicht sicher wissen, daß er in den Mainstream paßt. Eine tragische Verschwendung der Natur!

Einen Zaun will er bauen lassen, der amerikanische Präsident. Der Vergleich mit dem reaktionärsten seiner Vorgänger lohnt sich auch in solchen ästhetischen Dingen. Reagan forderte den Abriß der häßlichen Mauer in Berlin, Bush will einen noch häßlicheren Zaun errichten, und das im eigenen Land. “Massendeportationen” will er verhindern. Auch diese Vokabel zeugt von Feinsinn. Zaun oder Deportation stehen also zur Wahl? Eingedenk der mehr als unsicheren Finanzierung von Bushs mexikanischer Mauer dürfte man sich dann also auf die Deportationen einstellen. Ein Dilemma? Nicht gür George W. Bush, der weiß vermutlich nicht einmal, was das Wort bedeutet. Daher weiß er aber auch leider nicht, daß Politik solche Situationen verhindern kann. Es gibt ein komplexes Problem, dem man mit ausgeklügelten Strategien, offener Kommunikation, Kooperation und der einen oder anderen Idee beikommen könnte. Das wäre Politik, aber Bush weiß vermutlich nicht einmal, was das Wort bedeutet.

Was würde man tun, um als größter Versager auf seinem Posten in die Geschichte einzugehen? Sinnlose Kriege führen und verlieren? Freiheitsrechte beschneiden bis hin zur Auflösung des Rechtsstaats? Ein Kabinett von Dilettanten zusammenstellen, die sich eine Affäre nach der anderen leisten? Seinen Spezis hemmungslos die Taschen füllen? Seine Freunde verprellen? Die Welt gegen sich aufbringen? Was auch immer einem dazu einfällt, George W. springt wie der Igel vor dem Hasen aus dem Bush und ruft: Ich bin schon da!

Der als investigativ und ausgewogen bekannte Journalismus einer Zeitung mit 4 Buchstaben hat einen Stein ins Rollen gebracht. Die Reflexe der üblichen Verdächtigen wurden ausgelöst, es fallen Vokabeln wie “Entsetzen” und “schockiert”, was die Restjournaille wiederum artig zitiert. Ein Hauch von Abu-Ghuraib weht über dem Land, vielleicht schaffen wir es ja endlich, irgendwie, doch noch, Ziel der Terrormuslime zu werden.
Mal ehrlich: Die Geschmacklosigleit der Bundeswehrsoldaten in allen Ehren, aber eine Leichenschändung stelle ich mir anders vor. Das Klientel, das da um eine empörte Reaktion angebettelt wird, die Empörmuslime und Aufregaraber, kennen andere Dimensionen der Leichenschändung. Da macht es nur richtig Spaß, wenn die Leichen frisch sind, die Gesichter noch erkennbar, und dann schleift man sie durch die Straßen, bis man sie eben nicht mehr erkennt. Der Pöbel, der das beklatscht, wird der erste sein, der sich über die Nummer mit dem Schädel wirklich echauffiert. Ist es akzeptabler Journalismus, mit diesen Reflexen zu spielen und Auflage zu machen?
Die pietätlosen Kameraden müssen zurechtgewiesen werden, sicher. Es muß den Soldaten in den noch lebenden Schädel gehämmert werden, daß so etwas nicht geht, weil es immer Geier geben wird wie die mit den vier Buchstaben, die einen Staatsakt daraus machen.
Sollte der Vorgang als solcher aber derart verwerflich sein wie die Trommelschläger das dieser Tage verkaufen, muß sofort der Hamlet von allen Bühnen dieser Welt verschwinden.

Der Bundespräsident hat das Gesetz zur Privatisierung der Flugsicherheit nicht ausgefertigt. Das ist vordergründig keine große Sache. Manche mögen sagen, der Staat sei illiberal, zentralistisch und zutiefst marktfeindlich, wenn er es wagt, die Privatisierung von allem um jeden Preis zu unterbinden. Die Unbesorgten in Berlin mögen sagen, daß dann halt die Verfassung geändert werden muß – nicht weil sie auch der oben skizzierten Ansicht sind, sondern weil sie wie die Hunnen alles ausplündern, was sich vergolden läßt. Der Staatshaushalt muß ja saniert werden.
Interessant wird Köhlers Entscheidung aber in Verbindung mit seinem ersten Bremsmanöver, das Luftsicherheitsgesetz betreffend. Dabei ging es nämlich um die Frage, ob es der Bundeswehr eventuell erlaubt sei, Passagiermaschinen abzuschießen.
Es gehe dabei um “Sicherheit”, wollte man uns weismachen. Ein Schelm, wem dabei die Tränen kommen. Dieselben Dilettanten, die seit Jahren Alarm schlagen und den Bomben-Ali an jede sich bietende Wand malen, um Freiheitsrechte zu beschneiden, kämpfen jetzt dafür, die staatliche Hoheit über die Luftsicherheit wohlfeil verscherbeln zu dürfen. Dieser Aspekt der Geschichte ist der eigentliche Skandal. Er offenbart unüberbietbar, daß wir von einer Truppe regiert werden, die nicht für fünf Cent weiß, was sie tut.

Die Sueddeutsche beklagt sich zurecht über die Mißachtung der Geisteswissenschaften im Zusammenhang mit der Förderung nur so genannter “Eliteuniversitäten”. Sie stellt zurecht fest, daß Geld und ein bißchen Lametta keinen Weltrang begründen und die Kriterien für die Benennung im Grunde nur von Naturwissenschaften erfüllt werden können.
Was allerdings fehlt, ist der Hinweis auf die redliche Mühe, die die Geisteswissenschaften sich dabei geben, diese Behandlung genau so zu verdienen. Dabei findet sich der entlarvende Satz schon im Lamento: “Nahezu alle großen Leistungen der Geisteswissenschaft sind aber nun einmal aus der Individualforschung und nicht aus “cluster meetings” hervorgegangen.” Genau dieser Umstand weist nämlich auf eine Unfähigkeit zur Entwicklung hin, die hausgemacht ist. Die hierarchisch organisierte Ordinariatsuniversität kann in den Naturwissenschaften nur deshalb noch funktionieren, weil sie zur Vernetzung gezwungen ist, und zwar mit völlig divergenten Organisationsstrukturen. Einzig die preußische Geisteswissenschaft glaubt, es sich leisten zu können, eine Hand voll Professoren, die untereinander schon zu kaum einer Kooperation bereit sind, über ein Heer von Abhängigen nach belieben regieren zu lassen. Die hervorragendsten Eigenschaften, mit denen sich jemand in dieser Welt durchsetzt, sind Mißgunst, Duckmäusertum und Eifersucht. Innovation ist an den Philosophischen Fakultäten ein Unfall, der häufig nur begrenzte Wirkung zeitigt, weil man solche Vorkommnisse und ihre Urheber meist noch loswird, ehe sie einen relevanten Schaden anrichten können. Was übrig bleibt, ist eine sich selbst verwaltende Kaste von eitlen Langeweilern, deren Selbstwahrnehmung nur im äußersten Notfall noch durch Fremdwahrnehmung beeinflußt wird. Wer dagegen jetzt glorreiche Ausnahmen in Stellung bringt, sei daran erinnert, daß hier die Rede von der Organisation sogenannter Wissenschaften die Rede ist. Nein, es wäre an Torheit nicht zu überbieten, wenn irgend eine deutsche Hochschule für die Leistung ihrer Geisteswissenschaftler auch noch ausgezeichnet würde.

Ab heute ist dies die Heimat des Feynsinns. Ich habe das alte Archiv übertragen, allerdings leider nur ohne Kommentare. feynsinn.blogg.de wird einstweilen bleiben, aber nicht mehr aktualisiert werden.
Ich freue mich über jeden Link hierher, sei es von den mir schon länger gewogenen Bloggern oder solchen, die es sich aus gegebenem Anlaß gerade überlegen. Selbstverständlich bin ich ebenso dankbar für Kommentare und Vorschläge bezüglich des neuen Layouts.

Have a lot of fun!

Seit gut einem Jahr erscheinen feynsinnige Beiträge zum Weltklima des Nebenjournalismus in diesem bescheidenen Weblog. Ein paar hundert Besucher tun sich das jeden Monat an, ohne daß jemand sie durch fleißiges Spammen oder tägliche Kommentare in anderen Blogs herlockt. Ist das Bloggen?
Die meisten Blogs, die neu entstehen, sind Unterwäsche- und Heimvideo-Blogs, extrem kurzlebige “Ich blogge jetzt auch”-Blogs oder Nischenblogs wie ‘Campingschach im Ostallgäu’. Ist das Bloggen?
Und es gibt natürlich die Großen, die der ersten Stunde, die Blogs, in denen kommentiert wird, um gesehen zu werden. Ist das Bloggen?
Die heftige Diskussion über Versuche der PR-Branche, sich Blogs für ihre Zwecke zunutze zu machen, wird in letzteren geführt, als sei die Realität der angesagten Blogs und ihrer Betreiber die der ganzen (Blog-)Welt. Nicht zu Unrecht wird den PR-Fuzzis vorgeworfen, sie hätten keine Ahnung vom Bloggen und den Bloggern. Aber wenn man sich die ganze Landschaft anschaut, also alles berücksichtigt, was sich “Blog” nennt, so beschleicht einen ebenso der verdacht, daß diese Realität auch von den Starlets der Blogsphere ausgeblendet wird.
Fragt man sich, worin eigentlich die Gemeinsamkeit aller Genannten besteht, der Blogger aller Sorten und der PR-Schaffenden, kommt man der Sache vielleicht näher als einem lieb ist: Es ist nichts als Eitelkeit. Blogger sind Pfauen, und genau das ist es, was die PR-Szene anlockt. Sollen sie sich doch etwas abschauen von den bunten Radschlägern der Blogsphere! Sie werden lernen, daß ein erfolgreicher Pfau Individualist ist. Und sich unverrichteter Dinge einen anderen Spielpatz suchen.

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